Ab nach Frankreich – trotz Corona
Die 16-jährige Ronja Inauen besucht die Kantonsschule Zürcher Oberland – aber nicht mehr lange. In ein paar Tagen geht es für sie ab nach Frankreich in den Sprachaustausch. Sie gewährt uns einen Einblick in ihr Tagebuch und erzählt von den nervenzehrenden Vorbereitungen, Unsicherheiten und vor allem aber von der grossen Vorfreude.
5. Januar 2021
15. Juni 2020
Traust du mir einen Schüleraustausch zu? Meinst du, ich wäre fähig, mich in einem fremden Land allein durchzuschlagen? Aber eigentlich sollte ich vorne anfangen: Heute ist ein schöner Sommertag gewesen, ich bin ganz normal zur Schule gegangen. Wir haben den neuen Stundenplan bekommen. Dieser dumme Schulhausumbau. Ja klar, das alte Schulhaus ist nicht mehr im besten Zustand, aber es wäre doch möglich, diesen Umbau in weniger als zwei Jahren zu machen.
Und mal abgesehen davon waren wir gerade für drei Monate zu Hause, niemand hatte Schule, dementsprechend ist das Schulhaus nicht genutzt worden. Wie einfach wäre es doch gewesen, in dieser Zeit mit dem Umbau zu beginnen. Aber dies wurde nicht gemacht, also haben wir jetzt die nächsten zwei Jahre mehrere zwanzig- statt zehnminütige Pausen. Der ganze Schultag wird also ausgedehnt, wie unpraktisch. Und als wäre das nicht schon genug, werde ich nun auch immer den Zug verpassen, das bedeutet, dass ich nun immer eine Stunde später zu Hause sein werde – typischer Dorfkind-Moment. Ich habe keine Lust, dies die nächsten zwei Jahre durchzuziehen.
So habe ich mir Gedanken gemacht. Welche Möglichkeiten gibt es da? Beim aus-dem-Fenster-Schauen im Bus ist mir eine Idee gekommen. Es muss doch möglich sein, etwas wie ein Zwischenjahr mitten im Schuljahr zu machen. Da war sie, DIE Idee. Wieso nicht einen Schüleraustausch machen? Mit jedem Tag weg von dieser Schule spare ich eine Stunde, jede Woche ist ein kleiner Teilsieg. Doch ist das Ganze nicht etwas überstürzt? Ich glaube, ich brauche noch ein bisschen Zeit.
16. Juni 2020
Wie schon gesagt, ich brauche noch Zeit, allerdings habe ich diese Zeit nicht. Ich habe mich heute über einen Schüleraustausch informiert. Die Kantonsschule Zürcher Oberland (KZO) empfiehlt einen Austausch im Semester 4.1 oder im Semester 4.2. Für das Semester 4.1 bin ich sowieso schon zu spät, das beginnt gleich nach den Sommerferien, aber aufs Semester 4.2 könnte es klappen. Ich habe noch zwei Wochen Zeit, um einen Antrag zu stellen. Dafür brauche ich allerdings eine Empfehlung meiner Lehrer und muss bereits die Teilnahmebestätigung einer Organisation haben. Aus der Zeit zum Nachdenken wird also nichts.
Ich muss mich entscheiden, jetzt oder nie. Aber das ist leider nicht die einzige Entscheidung, die ich so überstürzt fällen muss. Wie lange möchte ich gehen? Acht Wochen, drei Monate, ein halbes Jahr oder vielleicht sogar ein ganzes Jahr? Und wohin möchte ich? Ach so viele Fragen, wenn ich doch nur etwas mehr Zeit hätte …
17. Juni 2020
Heute habe ich mit Corinne telefoniert. Sie hat selbst drei Monate einen Schüleraustausch in Frankreich gemacht. Ich denke drei Monate sind gut, doch die Frage mit dem Land hat sich immer noch nicht geklärt. In die USA oder nach Kanada zu gehen, wäre extrem cool, aber Mama möchte nicht, dass ich so weit weggehe. Frankreich wäre auch sehr schön, aber ich bin nicht sicher, ob ich das kann, ich habe während des Homeschooling echt viel von meinem Französisch verlernt. England wäre auch toll, aber vermutlich mache ich in Englisch viel kleinere Fortschritte. Einfach, weil mein Englisch schon relativ gut ist. Ach ich weiss nicht, was ich machen soll.
2. Juli 2020
Heute habe ich mit einem International Experience Mitarbeiter telefoniert. International Experience (iE) ist die Organisation, bei welcher ich mich beworben habe. Ich glaube, ein Schüleraustausch ist wirklich das Richtige für mich, denn, wie du vielleicht schon weisst, hasse ich es, Voci zu lernen, aber das Sprechen fällt mir relativ leicht. Ich habe mich entschieden: Ich gehe nach Frankreich. Leider kann ich nicht wählen, wohin ich in Frankreich gehe. Vielleicht ist dies gut so, denn ich kenne erst die Provence und die Camargue, aber auch nur von einer Woche Konflager (Anm. der Redaktion: Konfirmationslager).
28. Juli 2020
Juhuu, ich darf für drei Monate nach Frankreich in einen Schüleraustausch. Ich habe es geschafft. Heute ist die Teilnahmebestätigung von iE gekommen. Jetzt geht der grosse Aufwand erst richtig los. Ich muss so viele Formulare ausfüllen. Allein schon für die Partnerorganisation in Frankreich sind es achtzehn Seiten. Als wäre es nicht genug, ist das Ganze noch in Englisch. Aber nicht nur das, nein, ein Teil des Formulars ist natürlich auf Französisch. Dabei gehe ich doch genau deshalb nach Frankreich. Wollen die mich eigentlich von einem Schüleraustausch abhalten? Egal, ich werde das schaffen.
September 2020
Endlich sind alle Unterlagen ausgefüllt, Bestätigungen zusammengetragen und Kopien eingeschickt. Von mir aus könnte es losgehen.
Meine Eltern sind allerdings kritisch und sagen mir immer wieder, dass Corona mir einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Sie meinen, es sei äusserst unsicher, ob der Austausch stattfinden könne.
9. Oktober 2020
Wir sind momentan eigentlich in den Ferien. Wie fast immer dieses Jahr im Ferienhäuschen. Leider funktioniert das Internet nicht. Ich muss aber für meinen Austausch Vorbereitungsvideos schauen. Ohne Corona wäre alles so viel einfacher. Ich wäre ein Wochenende in einem Vorbereitungsseminar gewesen, hätte alles Wichtige gelernt und würde jetzt nicht mit einer heissen Schokolade in Sargans im Migros-Restaurant sitzen und englische Vorbereitungsvideos schauen. Allerdings ist es auch ein bisschen gemütlich, mal etwas ohne die ganze Familie zu machen. Ausserdem steigern diese Videos meine Vorfreude noch.
19. Oktober 2020
Heute hat plötzlich eine Mitarbeiterin von iE angerufen. Sie hat meiner Mutter berichtet, dass eine Gastfamilie für mich gefunden wurde. Dabei wurde mir gesagt, ich müsse jetzt einfach zuwarten und Geduld haben, Gastfamilien würden oft erst wenige Wochen vor der Abreise gefunden. Jetzt sind auch meine Eltern zuversichtlicher, es wird plötzlich konkreter. Morgen sollte eine Mail mit allen genauen Infos kommen. Ich kann es kaum erwarten.
20. Oktober 2020
Ich bin heute fast vor Aufregung «vergitzelt». Die Mail wollte und wollte einfach nicht kommen. Doch dann endlich, am späten Nachmittag, ist sie eingetroffen. Meine Gastfamilie wohnt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Salon de Provence. Die Familie hat drei Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen. Es waren auch ein paar Bilder mit dabei, die Familie sieht schon so freundlich aus. Ich freue mich sooo …
23. Oktober 2020
Die Familie sieht nicht nur nett aus, sie ist es auch. Wieso ich das weiss? Ich habe heute mit ihnen telefoniert. Ja, mein Französisch lässt definitiv noch zu wünschen übrig. Zum Glück war Mama mit dabei. Ich hätte nicht mal die Hälfte verstanden.
9. November 2020
Es steht sehr kritisch um den Schüleraustausch. Die Fallzahlen steigen täglich extrem. Ich hoffe, dass ich gehen kann. Es wäre wirklich schade, wenn ich alles umsonst organisiert hätte. Die Grenzen müssen einfach bis Mitte Januar offen bleiben. In die Schweiz zurückzukehren müsste immer möglich sein, denn ich bin ja noch minderjährig, und meine ganze Familie ist in der Schweiz.
November 2020
Von iE habe ich mal wieder Post bekommen, ein Büchlein mit ganz vielen Informationen zum Austausch. Es gibt so vieles vorzubereiten, zu planen und zu überlegen. Wie reise ich? Was packe ich ein? Wie packe ich? Was bringe ich der Gastfamilie mit? …? Was erwartet mich wohl in Frankreich? Wie ist die Schule dort? Welche Fächer werde ich haben? …? Und was möchte ich hier vorher noch alles erledigen? Wie verabschiede ich mich von meinen Kollegen? Schaffe ich das alles in der verbleibenden Zeit?
4. Dezember 2020
Wir haben heute zum zweiten Mal mit meiner Gastfamilie telefoniert. Ich habe schon seit dem letzten Telefonat regelmässig mit meiner Gastschwester geschrieben. Sie hat mir viele Bilder geschickt. Doch es ist halt schon cooler zu telefonieren. Ich platze vor Vorfreude.
17. Dezember 2020
Heute war ich mit einigen aus meiner Klasse Schlittschuhlaufen, so quasi als Abschluss. Ja, ich kann es selbst kaum glauben, aber morgen ist mein letzter Schultag, bevor ich im Januar an einer französischen Schule das Schuljahr beginne. Eigentlich hätte ich ja noch eine Woche mehr gehabt, aber da findet besagte «Vertiefungswoche» statt. Also muss ich mich morgen bereits von vielen verabschieden. Ich vermisse alle jetzt schon. Aber ich freue mich so auf den Austausch. Es wird so toll. Wenn ich früher geschrieben habe, dass ich vor Vorfreude platze, explodiere ich jetzt definitiv.