«Die Menschen des Kinderdorfes sind meine zweite Familie»
Ein Weiterbildungsurlaub führte Thomas Müller vor bald drei Jahren nach Kenia. Seither lassen das Land und seine Leute den Geschichtslehrer nicht mehr los. 2018 gründete er den gemeinnützigen Verein Ubele, der sich für Waisen- und Strassenkinder im Süden des Landes einsetzt.
27. April 2020
Vor der Haustür wird man von einer afrikanischen Holzskulptur begrüsst, im Esszimmer hängt eine zum Affenkopf geschnitzte Kokosnuss und an der Magnetwand in der Küche sticht dem Besucher die kenianische Flagge ins Auge. Afrikanische Kunst und Mitbringsel fügen sich natürlich in die Zürcher Altbauwohnung ein, in der Thomas Müller mit seiner siebenköpfigen Patchworkfamilie lebt. Auf ebenso natürliche Weise wuchs und wächst seine Verbundenheit zu Kenia, genauer gesagt zum Dorf Msambweni.
Hier verbrachte Müller im Sommer und Herbst 2017 seinen Weiterbildungsurlaub. Er, der «verkopfte Historiker und Gymilehrer», der an der Kantonsschule Zürcher Oberland Geschichte und an der Universität Zürich Fachdidaktik (siehe Box) unterrichtet, wollte einmal «etwas ganz anderes an einem ganz anderen Ort machen». Zufällig hörte er von Bekannten vom Projekt Nice View Children’s Village. 1997 gründete die Familie Dürr aus Ingstetten, Deutschland, ein Kinderdorf mit dem Ziel, Waisen- und Strassenkindern im Süden Kenias ein Zuhause und eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Unterstützt wird das Projekt vom gemeinnützigen Verein Schwarz-Weiss.
Der komische Schweizer und das Flaschenhaus
2017 fragte Müller bei der Kinderdorfleitern Gudrun Dürr an: «Könnt ihr mich brauchen? Ich mache alles.» Gesagt, getan. In den ersten Wochen half er in der Küche mit und beteiligte sich am Dorfalltag, sodass er Land und Leute schnell kennenlernte. Sein Hauptprojekt während des zehnwöchigen Aufenthaltes war der Bau eines Flaschenhauses. Zusammen mit einheimischen Arbeitern und der Hilfe der Kinder wurden 2400 PET-Flaschen mit Sand gefüllt, die ähnlich wie Ziegelsteine vermauert wurden. So entstand ein einfaches Rundhaus für die Askaris – die Wachmänner, die das Tor zum Kinderdorf bewachen. Über das «Bottlehouse» wurde sogar in der Tagesschau des kenianischen Fernsehens berichtet.
Könnt ihr mich brauchen? Ich mache alles. Thomas Müller
«Von früh bis spät war ich auf der Baustelle. Den meisten erzählte ich nicht gross, dass ich zu Hause als Lehrer arbeite. Für sie war ich einfach Uncle Thomas – der komische Schweizer, der das Flaschenhaus baut», erzählt Müller und verschränkt dabei die Hände vor seinem Bauch. An seinem Handgelenk ein Armband in den kenianischen Landesfarben, Rot, Grün, Schwarz und Weiss. Passend dazu trägt er ein T-Shirt, das er sich in Kenia gekauft hat, ebenfalls in den Landesfarben und mit dem Schriftzug «Peace, Love, Unity, is all we need in Kenya». «Ein Zufall, dass ich das gerade heute trage», wie er lachend feststellt.
Kenia: Pulsierend, kreativ und visionär
Seit seinem ersten Besuch hat der gebürtige Appenzeller das Land in sein Herz geschlossen. «Ich habe einfach nur gestaunt. Kenia ist voller Kontraste, so pulsierend und kreativ. Und trotz grosser Armut haben viele junge Menschen Ziele und Visionen. Das spürt man. Das hört sich jetzt so klischiert an, aber es ist eine andere Welt ... eine total andere Welt», versucht er sein Erleben in Worte zu fassen. «Für mich hat sich seit der Reise eine riesige Tür geöffnet», sagt er und man merkt ihm an, dass auch diese Worte seinen Gefühlen nicht Genüge tun. Natürlich habe sich sein Aufenthalt in Kenia auch auf seinen Geschichtsunterricht ausgewirkt: Er legt den Fokus seither mehr auf die globale Weltsicht als auf den üblichen Eurozentrismus.
Und trotz grosser Armut haben viele junge Menschen Ziele und Visionen. Thomas Müller
Für ihn war klar, dass er das Kinderdorf auch von der Schweiz aus unterstützen wollte. Im Frühjahr 2018 gründete er zusammen mit seiner Partnerin Nathalie Lang und zwei gemeinsamen Freundinnen den gemeinnützigen Verein Ubele (siehe Box). Heute leben 46 Mädchen und Jungen im Kinderdorf. Auf dem Gelände gibt es eine Primarschule, die von rund 150 Kindern aus der Gegend besucht wird, eine Schneiderei, eine Schreinerei, eine Farm und eine Gesundheitsklinik. Das Nice View Projekt schafft Arbeitsplätze für rund 85 Menschen, darunter sind mittlerweile auch Frauen und Männer, die schon als Waisen dort gelebt haben. «Nice View ist eine nachhaltige Investition in die ganze Region», fasst Müller zusammen.
Rösti, Ziege vom Grill und Appenzeller Volksmusik
Viele fragen ihn: «Wieso gerade Kenia?». Seine Antwort ist simpel: «Wieso nicht? Es musste wohl so sein und hat von Anfang an einfach gepasst. Die Menschen vom Kinderdorf sind meine zweite Familie.» Seit seinem ersten Aufenthalt reiste er schon zwei weitere Male mit seiner Partnerin und ihren fünf Kindern nach Msambweni, die ebenso begeistert sind wie er und viele Freundschaften geschlossen haben. Diesen Sommer steht der nächste dreiwöchige Besuch bevor und somit eine neue Möglichkeit, gemeinsam bleibende Erinnerungen zu schaffen.
Einer seiner liebsten Momente bisher: die 1. August-Feier im Dorf. «Rösti und eine grillierte Ziege, die kenianische Landeshymne und Appenzeller Volksmusik. Aussenstehende würden sagen ‹Nein, nein, wie klischiert!› – aber unsere Feier war einfach stimmig», erzählt er lachend. «Unsere Freunde freuen sich jetzt schon auf die nächste Rösti. Ich weiss, ich werde mit dem Team in der Küche stehen und Kartoffeln braten. Und ich werde wieder staunen und lernen», sagt Müller bestimmt.
Über Thomas Müller
Der 56-jährige Thomas Müller arbeitet zu 65 Prozent als Geschichtslehrer an der Kantonsschule Zürcher Oberland (KZO) sowie zu 35 Prozent als Dozent für Fachdidaktik an der Universität Zürich. Er lebt mit seiner Familie im Zürcher Kreis 6 und die Tage könnten für seinen Geschmack ruhig länger sein, um all seine Tätigkeiten unter einen Hut zu bringen. Nebst seiner Arbeit als Vereinspräsident von Ubele, die ihn fast täglich beschäftigt, betreibt er mit seiner Partnerin und einigen Freund*innen zudem das Bistro Staziun in Lavin.
Für die KZO schrieb er über seinen Weiterbildungsurlaub in Msambweni.
Über Ubele
Der gemeinnützige Verein Ubele unterstützt mit verschiedenen Aktionen das Nice View Children’s Village in Msambweni im Süden Kenias. Seit 2000 erhalten Waisen- und Strassenkinder hier ein Zuhause, schulische Bildung und damit eine Lebensperspektive. «Ubele» bedeutet auf Kishuahili denn auch Aussicht oder Perspektive. Der Verein ist politisch und religiös unabhängig und das Kinderdorf wird ausschliesslich durch private Spendengelder finanziert.