«Gute Gamification geht vom Unterricht aus»
Robin Fürst ist Deutschlehrer und Gamification-Experte. Im Interview erzählt er, was gute und schlechte Gamification ist, warum seine Schüler*innen nicht das dünnste Buch wählen und wie er die Zukunft der Mittelschule gestalten würde.
22. Mai 2024
Herr Fürst, wie sind Sie zum Thema Gamification gekommen?
Ich war schon lange «aktiver Gamer». Als Deutschlehrer interessiere ich mich natürlich für Literatur, als Gamer aber eben auch für Videospiele. Vor rund zwölf Jahren habe ich ein Youtube-Video gesehen, in dem es um Gamedesign ging und dann ein weiteres zum Thema Gamification. Das wollte ich in meinem Unterricht umsetzen und startete mit einem Lektüreprojekt in einer zweiten Klasse. Der Lerneffekt war viel grösser, als ich erwartet hatte. Später habe ich dann weitere Projekte aufgegleist und umgesetzt.
Was verstehen Sie unter Gamification?
Gamification im Allgemeinen heisst, dass man einzelne Prinzipien aus Spielen (meist Videospiel-Mechaniken) auf einen anderen, spielfremden Bereich überträgt. Konkret in meinem Fall bedeutet es: Meine Schülerinnen und Schüler lesen Bücher, sammeln dabei Punkte und leveln sich so kontinuierlich hoch. Gamification braucht klare Regeln, innerhalb dieser Regeln aber sind die Spieler*innen möglichst frei. Gamification ist aber nicht gleichbedeutend mit blossem Punktesammeln und es gibt auch schlechte Gamification, die im Unterricht nicht viel bringt.
Das müssen Sie ausführen!
Nehmen wir als Beispiel eine App, die dir eine Trophäe verleiht, weil du etwas regelmässig und intensiv gemacht hast, bspw.über mehrere Tage hinweg täglich aktiv auf der entsprechenden Plattform gewesen bist. Damit soll natürlich erreicht werden, dass du die App regelmässiger und intensiver nutzt, als du es im Normalfall tun würdest.
Man kann eigentlich alles gamifizieren – Sammelpunkte wie Cumulus gehören dazu, Galaxus und andere Onlineshops setzen darauf. Das ist für mich kosmetische Gamification, sie wird einfach «aufgetragen», über die bestehende Dienstleistung drübergestülpt. Das ist für den Unterricht nicht wirksam und kann höchstens vereinzelt und kurzfristig etwas auslösen.
Gamification im Allgemeinen heisst, dass man einzelne Prinzipien aus Spielen (meist Videospiel-Mechaniken) auf einen anderen, spielfremden Bereich überträgt.
Was sind denn Mechanismen für gute Gamification?
Man fragt sich vom Unterricht und seinen Zielen ausgehend, was Sinn ergibt bzw. welche Spielmechanismen zum jeweiligen Inhalt passen könnten. Wichtig ist dabei ein gewisser Grad an Freiheit. Was Videospiele auszeichnet, sind Wahlmöglichkeiten. In vielen Videospielen habe ich die Wahl, welche Mission ich als nächstes angehen will und entsprechend sollen auch meine Schüler*innen eine Wahl haben, wofür sie ihre Zeit einsetzen wollen. Das habe ich bei meinen Lektüreprojekten so umgesetzt: Meine Schüler*innen können aus rund fünfzig Büchern auswählen, welche sie lesen wollen, und ebenso, welchen thematischen Fokus sie bei ihren Lesejournal-Einträgen setzen wollen.
Man fragt sich vom Unterricht und seinen Zielen ausgehend, was Sinn ergibt bzw. welche Spielmechanismen zum jeweiligen Inhalt passen könnten.
Hätte ich damals als Schüler diese Wahl gehabt, hätte ich das dünnste Buch genommen, das mit dem wenigsten Aufwand. Dieses rein ökonomische Denken habe ich durch Gamification-Prinzipien ausgehebelt und verteile Punkte nach verschiedenen Kriterien – quantitative wie die Anzahl Seiten, qualitative wie die Lese- und Interpretationsschwierigkeit. Das dünne Buch gibt also nicht zwingend weniger Aufwand als das dicke.
Können Sie das noch genauer erklären?
Die Lernenden müssen die Lektüre nachweisen, indem sie das Gelesene in ihren Journalen kontinuierlich reflektieren, wobei einige deutlich öfter und mehr schreiben, während wiederum andere mehr oder dickere Romane lesen, die dann nur grundlegend analysiert werden. Beide Strategien können zur selben Punktezahl und mithin Note führen. Die transparente Punktearchitektur ermöglicht es, einigermassen zielsicher eine gewünschte Note anzupeilen.
Es geht nicht darum, dass man in der vorgegebenen Zeit nur ein Buch liest, wichtiger ist, dass man sich mit Gegenständen beschäftigt, die einen interessieren. Wenn ein Buch nach der Lektüre der ersten 50 Seiten nicht den Erwartungen entspricht, kann man ein neues wählen, ohne dass einem dafür Punkte abgezogen werden.
Was sind Ihre (positiven) Erfahrungen mit Gamification im Unterricht?
Als Lehrer korrigiere ich viel lieber Ausführungen zu Literatur, die die Schüler*innen selber gewählt haben. Ich spüre das intrinsische Interesse, das ist grösser bei einem Buch, das sie selber gewählt haben als bei einem, das einfach alle lesen müssen. Die Schüler*innen können Tempo und Vertiefung ihrer Lektüre selber bestimmen.
Die Schüler*innen erleben Kompetenz, weil sie sich das Buch selber erarbeitet haben. Ich spüre bei ihnen wachsendes Selbstvertrauen im Umgang mit Literatur.
Schön ist auch, dass der Unterricht so quasi selbstgesteuert individualisiert wird. Eine Schülerin mit Legasthenie oder ein fremdsprachiger Schüler wählt ein einfacheres Buch und bekommt am Ende etwas weniger Punkte, aber auf dem Weg erleben sie laufend Fortschritte. Das gibt ihnen Selbstvertrauen.
Die Schüler*innen erleben Kompetenz, weil sie sich das Buch selber erarbeitet haben. Ich spüre bei ihnen wachsendes Selbstvertrauen im Umgang mit Literatur.
Selbstbestimmt lesen kommt sonst zu kurz während der Gymizeit, in den Gamification-Projekten ist das möglich. Ich vergebe auch schlechte Noten, häufig sind sie aber gut. Viele Schüler*innen geben Vollgas, ohne Zwang, aber dank Anreizen.
Zur Person
Robin Fürst ist Deutschlehrer an der Kantonsschule Zürcher Unterland, zudem Gamification- und KI-Experte, Prompt Engineer, Medienpädagoge, Gamer und Vater. Der 43-Jährige arbeitet seit Jahren mit Gamification im Unterricht.
Sehen Sie auch Nachteile?
Der Initialaufwand für Lehrpersonen ist riesig, es erfordert eine gute Planung. Der Aufwand während des Semesters ist nicht immer abschätzbar, mal habe ich viel zu korrigieren, mal weniger und ich weiss nicht genau, wann was der Fall ist.
Die Idee der Gamification ist auch, dass man zeitnahes Feedback gibt. Im Videospiel ist ja das Feedback meist unmittelbar. Mein Ziel ist es immer, innerhalb weniger Tage Rückmeldung zu geben, sonst verpufft der Effekt des dialogischen Lernens. Die Schüler lesen, schreiben über ihre Lektüre, der Lehrer liest das und gibt Feedback. Die Punkte sind Teil des Feedbacks. Man muss konstant korrigieren, das ist der grösste Nachteil.
Die Idee der Gamification ist auch, dass man zeitnahes Feedback gibt. Im Videospiel ist ja das Feedback meist unmittelbar.
Was raten Sie Personen, die im Unterricht Elemente aus Gamification einsetzen möchte?
Man darf keine Angst haben, Fehler zu machen, zu scheitern. Das ist sowieso etwas, was wir aus Videospielen lernen können: Man lernt aus Fehlern. Ich sage meinen Schüler*innen offen, dass meine Projekte in einer ewigen Betaphase sind. Sie sind natürlich erprobt, aber manchmal muss ich Anpassungen machen. Das funktioniert, wenn die Schüler*innen mir vertrauen, dass ich es nicht zu ihrem Nachteil anpasse.
Es braucht immer Anpassungen: Ich muss den Aufwand abschätzen, die Kompetenz der Klasse berücksichtigen, die Zeit, die noch im Semester verfügbar ist, die anderen Aufgaben, die auch noch anfallen. Manchmal merke ich nach zwei Wochen, dass ich die Punkte falsch verteile und kündige dann an, dass ich eine Änderung im System mache, damit es fairer wird.
Man darf keine Angst haben, Fehler zu machen, zu scheitern.
Man sollte mal klein anfangen, sich aber dennoch trauen, es einige Wochen auszuprobieren.
Und der wichtigste Tipp: Man muss den Schüler*innen Freiheiten geben und sich auf das Nonlineare einlassen, das macht das Medium «Spiel» schlussendlich aus.
Gibt es sonst noch etwas, was Sie teilen möchten?
Ich setze mich intensiv mit dem Thema auseinander und denke mittlerweile, dass richtig gute Gamification nicht unbedingt auf der Mikroebene des Unterrichts stattfinden sollte, sondern auf der Makroebene, im Schul- und Bildungssystem. Da würde sich der wahre Nutzen von Gamification zeigen. Darüber möchte ich nachdenken.
Das bräuchte aber natürlich mehr Freiheit im Bildungssystem. Gamification könnte m. E. den Spagat schaffen zwischen individualisiertem Lernen und dem Lernen in Kohorten. Die heutigen Klassenverbände sind da nicht das richtige Instrument.
Das heutige Bildungssystem kann man als schlecht designtes Videospiel betrachten. Jedes Schuljahr ist ein Level, jedes Jahr kommen die Schüler*innen ein Level höher. Die Mittelschule der Zukunft könnte man so designen, dass die Zeit nicht so starr ist – die einen machen nach drei Jahren Matura, andere nach fünf. Die Schüler*innen könnten selber über ihre Vertiefungen nachdenken, auch mal ein halbes Jahr arbeiten gehen.
Gamification könnte m. E. den Spagat schaffen zwischen individualisiertem Lernen und dem Lernen in Kohorten.
Um in diesem individualisierten System den Überblick zu behalten, wäre Gamification ideal. Dabei unterstützen könnte KI, sie könnte zum Beispiel die Punkteverteilung übernehmen. So hätten die Lehrpersonen mehr Zeit für ihre Rolle als Lerncoach und müssten nicht – wie ich aktuell – eine pingelige Punktebuchhaltung führen.