«Jede Verletzung hinterlässt ihre Narben»
Claudia Landerer ist seit vielen Jahren Schulärztin an der Kantonsschule Zürich Oberland. In ihrer wöchentlichen Sprechstunde berät sie Schüler*innen bei gesundheitlichen und psychischen Schwierigkeiten und Fragen. Eine wichtige Anlaufstelle, die in einer persönlichen Krise eine grosse Hilfe sein kann.
14. April 2021
Frau Landerer, wie wird man Schulärztin?
Claudia Landerer: Eine Ausbildung im eigentlichen Sinn gibt es dafür nicht. Bei mir ist es so, dass ich in den achtziger Jahren Medizin studiert und mich anschliessend in Chirurgie, Innerer Medizin, Gynäkologie und Geburtshilfe weitergebildet habe. Zu meinen Interessensgebieten gehört seit jeher auch die Kinder- und Jugendmedizin, speziell die Jugendgynäkologie. Heute bin ich als Hausärztin mit einem Fähigkeitsausweis für Psychosoziale und Psychosomatische Medizin in einer Gemeinschaftspraxis mit fünf weiteren Hausärzt*innen tätig.
Worin sehen Sie Ihre wichtigste Aufgabe an der Schule?
Was mir besonders gefällt, ist die Vielfalt meiner Tätigkeit. Ich bin Ärztin und Psychologin zugleich, kann bei gesundheitlichen Problemen Hilfe leisten, weiss aber auch Rat, wenn es einer Schülerin oder einem Schüler psychisch nicht gut geht. Zuhören können ist dabei das Allerwichtigste. Aber letztlich ist das auch in meiner Praxis nicht anders. Viele Menschen brauchen einfach einen Ort, wo sie ihr Herz ausschütten können – ganz diskret und ohne Angst vor Konsequenzen.
Welches sind die häufigsten Probleme, mit denen Sie konfrontiert sind?
Ich bin seit 2009 an der KZO, und wenn ich die Jahre Revue passieren lasse, so steht ein Thema immer wieder im Mittelpunkt: die Familie. Hier beginnt alles, und hier kann leider sehr viel schieflaufen. Scheidungen, Streitereien, Alkohol, häusliche Gewalt – all das kann für ein Kind oder eine*n Jugendliche*n sehr belastend sein. Hinzu kommen kulturelle Probleme in Familien mit Migrationshintergrund. Da werden Kinder eingesperrt, dürfen nicht raus, müssen gehorchen und leiden, weil die Familienbande so stark sind, dass sie sich nicht frei bewegen und schon gar nicht entfalten können.
Familiäre Probleme machen den Grossteil meiner Arbeit aus.
Wie können Sie in einer solchen Situation Einfluss nehmen?
Wir an der KZO legen grossen Wert auf niederschwellige Beratung. Niemand muss Angst haben, wenn er oder sie zu mir kommt. Oft dürfen die Eltern gar nichts wissen von unseren Gesprächen, damit nicht alles noch schlimmer wird. In einem solchen Fall übernimmt die Schule die Kosten für die ersten zwei, drei Gespräche – danach müssen wir gemeinsam eine Lösung suchen.
Haben Sie denn überhaupt Zeit für eine längerfristige Begleitung oder gar Therapie?
Nein, aber das ist auch nicht meine Aufgabe. Meine Rolle ist vielmehr die einer Vermittlerin. Ich führe die ersten Gespräche und mache dann eine Triage: An welche Stellen soll sich der oder die Jugendliche wenden, wer kommt als Betreuer*in infrage, welche Hilfe erscheint am sinnvollsten?
Sie erwähnen familiäre Probleme? Wie steht es mit anderen Themen?
Die Fälle, mit denen ich zu tun habe, sind meistens familiär belastet. Problemen mit Drogen wie Cannabis oder Alkohol begegne ich eher selten. Natürlich ist Kiffen für Jugendliche kein Fremdwort, und mit Alkohol haben auch schon viele ihre Erfahrungen gemacht. Entscheidend ist aber vielmehr, wie ein Mensch damit umgeht. Es gibt solche, die ein Leben lang keine Probleme damit haben, während andere aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur suchtgefährdet sind.
Und sonst?
Mit Mobbing in den sozialen Medien habe ich auch wenig zu tun, da die Schule in diesem Bereich sehr viel und sehr gute Präventionsarbeit leistet. Essstörungen, Bulimie, Ritzen oder Suizidgedanken gibt es auch immer wieder. Das müssen wir unbedingt ernst nehmen, denn bei Jugendlichen kann es plötzlich schnell gehen, wenn sie in einem Tunnel feststecken.
Oft kommen die Betroffenen auch gar nicht von sich aus zu mir – es kann auch eine Lehrperson sein, die mich auf eine Störung aufmerksam macht. Es ist auch schon vorgekommen, dass mich die engsten Gspändli darauf hinwiesen, dass etwas nicht stimmt. Eine solche Fürsorge berührt mich und zeigt mir, dass es auch in schwierigen Situationen sehr viel Gutes gibt.
Sie haben die Prävention an der Schule angesprochen. Wie funktioniert die?
Ich finde, dass sich die KZO gut um ihre Angehörigen kümmert. Es gibt viele Lehrpersonen, die sich wirklich engagieren und dazu beitragen, dass hier ein Klima herrscht, in dem sich alle wohlfühlen können.
Was bedeutet dies konkret?
Man muss wissen, dass es auf Mittelschulstufe keinen obligatorischen schulpsychologischen Dienst gibt. Jede Schule organisiert sich selbst und hat es selber in der Hand, welche Massnahmen sie für sinnvoll erachtet. Eine Schulärztin wie mich gibt es zum Beispiel an den meisten Mittelschulen. Aber ich stehe an der KZO nicht alleine da, sondern bin aktiv eingebunden in eine grössere Struktur, die sich im weitesten Sinn um die psychische Gesundheit aller Schulangehörigen kümmert.
So treffe ich mich regelmässig mit zwei Lehrpersonen, die als Schulpsycholog*innen für die Schüler*innen zuständig sind, und einer Psychologin, die Anlaufstelle für die Lehrpersonen ist. In dieser Gruppe tauschen wir uns aus, besprechen weitere Schritte und sorgen so für mehr Transparenz auf allen Stufen. Das Arztgeheimnis aber bleibt natürlich auch hier gewahrt. Niemand erfährt ohne vorherige Rücksprache mit der betreffenden Person, was Schüler*innen mir anvertrauen, da das Arztgeheimnis auch bei Minderjährigen gilt.
Wie viele Schüler*innen kommen eigentlich zu Ihnen in die Sprechstunde?
Gemessen an der Grösse unserer Schule sind es recht wenige. Dies lässt allerdings nicht darauf schliessen, dass alles rund läuft und es keine Probleme gibt. Die Hemmschwelle, sich an mich zu wenden, ist hoch. Denn es braucht viel Mut, sich einer fremden Person gegenüber zu öffnen. Damit dieser Schritt dem einen oder der anderen etwas leichter fällt, absolviere ich jedes Jahr einen regelrechten Parcours durch die ersten und dritten Klassen und stelle mich den neuen Schüler*innen kurz vor. Sie sollen wissen, wer die Person ist, die als Schulärztin unter Beratungen aufgelistet ist, und worin mein Angebot besteht.
In einem Dok-Film, der vor gut einem Jahr im Schweizer Fernsehen lief, wurden Sie auch als «Dr. Sex» bezeichnet. Was hat es damit auf sich?
Zu meinen Aufgaben gehört nicht nur die Problemlösung, sondern auch die Aufklärung. Vor Corona hat zum Beispiel die Fachschaft Biologie einen Kurs mit mir initiiert, der mich in alle dritten Klassen führte. Ich hielt keinen Vortrag zur Aufklärung, sondern beantwortete Fragen, die sich die Schüler*innen im Vorfeld überlegt hatten. Das war ein voller Erfolg, und manch eine Lehrperson war wohl ein wenig neidisch, wie konzentriert die Jugendlichen an meinen Lippen hingen und meine Worte richtiggehend aufsogen.
Worauf legen Sie in diesen Frage-und Antwort-Stunden besonderen Wert?
Ich mache die Jugendlichen immer darauf aufmerksam, welche Rechte sie haben. Es ist zum Beispiel längst nicht mehr so, dass ein Mädchen einen gynäkologischen Untersuch über sich ergehen lassen muss, wenn es die Pille verschrieben haben will. Solche Praktiken sind meiner Meinung nach sehr grenzwertig, wenn nicht gar übergriffig. Auch wenn der Gott in Weiss autoritär auftritt: Nein sagen geht immer.
Ich weise die Jugendlichen immer auf ihre Rechte hin und versuche, sie in ihrem Selbstbestimmungsgefühl zu stärken.
Was müssen Jugendliche sonst noch wissen?
Ich versuche auch, ihr Selbstbestimmungsgefühl zu stärken. Denn sie sind es, die über ihren Körper und ihren Geist bestimmen können, niemand sonst. Und wenn wir schon bei den Rechten sind: Auch eine 13-Jährige kann sich die Pille verschreiben lassen. Was zählt, ist nicht das biologische Alter, sondern die Urteilsfähigkeit. Für mich ist völlig klar, dass ich ein junges Mädchen besser vor einer ungewollten Schwangerschaft schütze, als dass es in eine Situation hineinrutscht, die es gar nicht will und die sein Leben komplett auf den Kopf stellen kann. Von den Eltern kann ich für eine solche Entscheidung nicht belangt werden. Wegen Verletzung des Arztgeheimnisses aber könnte ich sehr wohl ins Gefängnis kommen.
Kommt das Thema Missbrauch in Ihrer Praxis oft vor?
Vordergründig eher selten. Aber wenn ein familiäres Problem vorliegt, denke ich den Missbrauch immer mit. Das Schlimme daran ist, dass dieses Thema immer eine Mauer des Schweigens umgibt. Dabei wäre es so wichtig, darüber zu sprechen. Jede Verletzung hinterlässt ihre Narben, die man – wenn überhaupt – nur heilen kann, wenn man sie thematisiert.
Eine Frage noch zur Organisation: Was könnten andere Schulen von der KZO lernen, wenn es um psychische Gesundheit geht?
Die KZO tut wie gesagt sehr viel in diesem Bereich. Ich denke auch, dass sehr viele unserer Lehrpersonen über das nötige Sensorium verfügen, um genau hinzuschauen und zuzuhören. Was aus struktureller Sicht wichtig ist, sind Gruppen und Gefässe, die für mehr Transparenz sorgen und die Kommunikation untereinander verbessern.
Konkret denke ich da an unsere Kontaktgruppe, die sich einmal pro Quartal trifft. Diese Gruppe steht unter der Leitung eines Prorektors und vereint Schulsozialarbeiter*innen, Lehrer-, Schüler- und Elternvertreter*innen, die Suchtprävention sowie Lehrpersonen mit Spezialaufgaben an einem Tisch. Da findet nicht nur ein reger Austausch statt, sondern es gibt auch eine Befindlichkeitsrunde, in der das Klima an der Schule zur Diskussion steht. Das ist befreiend und zielführend zugleich.
Sprechen Sie dabei auch über konkrete Fälle?
Nein, das Arztgeheimnis gilt auch hier. Es geht mehr um übergeordnete Fragen, zum Beispiel, ob die Schule eine Handyfreie Unterstufe schaffen soll und wie sie das tun könnte. Manchmal gibt es auch Zeiten, in denen es mehr Anfragen wegen Drogen oder Essstörungen gibt. Auf dieser allgemeinen Ebene kann ich mich sehr gut einbringen.
Ihr Schlusswort?
Ich führe meine Arbeit als Schulärztin mit viel Freude und Empathie aus. Wenn ich sehe, wie es bei uns läuft und alle am selben Strick ziehen, motiviert mich das zusätzlich. Mein Ziel ist es, allen Menschen, die zu mir kommen, offen zu begegnen und ihnen meine Hilfe anzubieten. Ich spreche die Dinge möglichst direkt an. Wenn ich die richtigen Worte finde und damit ein Gespräch in Gang bringe, öffne ich neue Räume und schaffe neue Möglichkeiten.