Spuren des Krieges
Mariia Yunha ist Ukrainerin und Schülerin am MNG Rämibühl. Ihr Text schildert in Form eines Tagesbuches einer fiktiven Frau in Kiew das Nebeneinander von Krieg und Normalität und Alltag.
26. März 2024
17. April 2023
Auf Empfehlung meines Psychoterapeutin habe ich begonnen, dieses Tagebuch zu führen. Hier soll ich alles festhalten, angefangen bei meinen täglichen Aktivitäten bis hin zu meinem emotionalen Zustand. Ehrlich gesagt, ich habe das Gefühl, dass sie auf diese Weise versucht hat, unsere Sitzungen zu ersetzen. Offensichtlich hat sie nicht genug Zeit für all ihre Klienten, da die Nachfrage derzeit enorm ist. Ich frage mich, wie viel sie verdient...
Heute bin ich wie immer zur Arbeit gegangen und habe zwei, drei Onlinemeetings mit ausländischen Partnern abgehalten. Ich bin zufrieden mit mir selbst. Leshа ist noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Heute wurden etwa zehn Verletzte ins Krankenhaus gebracht, aber er hat versprochen, vor Beginn der Ausgangssperre zurückzukehren. Im Moment sind nur wir beide hier – ich und meine Katze.
Ich weiss nicht, über was ich schreiben soll, denn alles ist wie immer. Arbeit – nach Hause – schlafen. Mal sehen, ob diese Einträge irgendwie nützlich sein werden.
19. April 2023
Der Mittwoch verlief recht gut. Ich traf mich mit meinen Freundinnen aus der Schulzeit, Yulia hat sich überhaupt nicht verändert. Wir tranken Kaffee und sprachen über unsere Angelegenheiten. Lena empfahl mir einen leisen Staubsauger, weil die Geräusche des meines mich erschrecken und ich deshalb seit zwei Wochen das Putzen aufgeschoben habe. Ich sollte eine Reinigung bestellen. Ich schreibe hier wieder aus Langeweile. Ich bin zu müde, um zu arbeiten, aber nicht so müde, dass ich schlafen gehen würde, ohne auf Leshа zu warten.
23. April 2023
Heute war es nicht so ruhig, wie ich es gerne gehabt hätte. Wegen des Luftalarms musste ich meine Maniküre auf morgen verschieben. Ich habe mich von meinem Flur aus an der Besprechung beteiligt, zum Glück habe ich mein Arbeitsplatz hier eingerichtet, nachdem es mir leid tat, in meinem Badezimmer zu arbeiten. Leider haben wir in unserer Wohnung keine weiteren Zimmer mit tragenden Wänden, und wenn ich jedes Mal zum Parkplatz hinuntergegangen wäre... vielleicht hätte ich 15 Kilo abgenommen, weil ich die Treppe hinauf und hinunter gegangen wäre, und ich hätte keinen teuren Fitnessstudio-Pass kaufen müssen. Leshа kam rechtzeitig zurück, also werde ich heute nicht mehr schreiben.
24. April 2023
Mir wurde ein Staubsauger geliefert (er ist wirklich ziemlich leise), und ich habe mir die Nägel gemacht!!! Das Leben ist wieder schön :) Wie wenig braucht eine Frau zum Glücklichsein.
27. April 2023
Gestern habe ich den Tag damit verbracht, mich selbst zu überwinden. Normalerweise bin ich recht positiv, aber aus irgendeinem Grund überkam mich Angst. Ich erwartete alles Mögliche. In Kyiv ist es seit zwei Wochen ruhig, nur gelegentlich heulen die Sirenen auf. Ich mag diese Stille vor dem Sturm nicht... Ich habe vereinbart, mich morgen mit meinem Therapeuten zu treffen. Heute bin ich einfach spazieren gegangen, um die ängstlichen Gedanken loszuwerden. Leshа und eigentlich niemandem ausser meinem Psychotherapeuten habe ich nichts über meinen Zustand erzählt. Er hat schon genug zu tun, und ich möchte nicht noch eine zusätzliche Last für ihn sein. Aber wahrscheinlich haben alle ähnliche Gedanken.
28. April 2023
Heute haben Leshа und ich etwa zwei Stunden geschlafen, denke ich. Die Nacht war laut, um Mitternacht begann der Alarm, ein Raketenfragment landete in der Nähe unseres Hauses. Es war furchterregend, so nah war in den letzten paar Monaten nichts mehr herangekommen. Wir sassen im Flur, die Katze schlief in der Badewanne. Wir konnten nicht schlafen. Aber um sechs Uhr morgens war alles vorbei, und ich ging zur Arbeit, wo mich genauso unausgeschlafene Kollegen erwarteten. Dann das Fitnessstudio, ein Treffen mit einer Freundin und ein Überraschungsabendessen, das Leshа zum Jahrestag vorbereitet hatte (ja, ich hatte es vergessen).
Ich arbeitete den ganzen Tag über wie auf Autopilot. All das Fluchen und die Wut, die die Angst längst ersetzt hatten, verschwanden zusammen mit meiner Energie.
1. Mai 2023
Heute war ein grossartiger Tag. Nach der Arbeit spazierte ich im Park, sah den Sonnenuntergang über dem Dnipro und sprach mit meiner Mutter. Sie hat es geschafft, Onkel zu erreichen, und er hat mir Grüsse ausgerichtet. Die Seele ist wieder ruhig. Es scheint, als hätten sich alle an die Sirenen gewöhnt und versuchen, die ruhigen Zeiten in vollen Zügen zu geniessen, denn die Zeit kann niemand zurückbringen.
4. Mai 2023
Leider hat Gott mich nicht mit dem Talent für das Schreiben ausgefeilter Mord- und Foltermethoden ausgestattet. Andernfalls wäre der heutige Eintrag so lang wie ein Roman (in drei Bänden). Die Sirenen heulten auf, sobald ich in die Wohnung kam. Leshа war ausgerechnet wieder einmal spät dran. Irgendwann gegen acht Uhr, nach mehreren lauten Explosionen, gab es Nachrichten von drei Bränden in der Hauptstadt, die durch brennende Trümmerteile verursacht wurden. Leshа schrieb, dass er in der Klinik für die Nachtschicht bleiben müsste. Hinter dem grimmigen Hass verbirgt sich eine Angst, die sich bemerkbar machte, sobald ich mir vorstellte, dass meinen Angehörigen etwas zustossen könnte. Ich konnte immer noch nicht im Flur schlafen. Am Morgen ging es zur Arbeit...
6. Mai 2023
Die Sirenen jede Nacht, aber die Raketenabwehrsysteme schiessen alles ab. Die Anzahl der morgendlichen Kaffees, den ich trinke, habe ich längst aus den Augen verloren, aber ich halte durch. Es gibt viel Arbeit, deshalb bin ich heute später nach Hause gekommen als Leshа. Wir haben einen Film angesehen und gehen jetzt schlafen. Mir ist nicht nach Schreiben zumute. Ich habe überhaupt keine Lust, irgendetwas zu tun.
8. Mai 2023
Um ein Uhr nachts ist eine Drohne in das Nachbarhaus gestürzt. Wir hatten Glück, dass das Fenster nicht zerbrochen ist. Ich möchte nichts schreiben, und heute gehe ich auch nicht zur Arbeit, ich kann nicht unter Menschen gehen.
10. Mai 2023
Meine Routine hat sich wieder normalisiert, ich bin stolz auf mich. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich mit zwei, drei Stunden Schlaf pro Nacht durchhalten kann, aber ich muss weiterleben. Ich kann der Situation nicht helfen, wenn ich zu Hause sitze und leide. Es ist besser zu arbeiten, Steuern zu zahlen und Geld für wohltätige Zwecke zu spenden.
13. Mai 2023
Ich fuhr mit der U-Bahn zur Arbeit und holte mir auf dem Weg ins Büro ein Brötchen und Kaffee, das hat meinen Tag gemacht. Da ich gestern auch nicht schlafen konnte, begann ich um drei Uhr morgens mit dem Bericht, daher war ich heute früher von der Arbeit frei. Die Kollegen fragen, wie ich das alles durchhalte. Ich werde ihnen nicht antworten, dass ich seit einem halben Jahr Antidepressionspillen nehme ...
15. Mai 2023
Heute war es ruhig. Ich war im Park spazieren, habe die Katze zum Tierarzt gebracht und Lebensmittel für eine Woche eingekauft. Morgen muss ich mein Fitnessstudio-Abo verlängern. Abends hat es geregnet, Leshа kam völlig durchnässt nach Hause.
16. Mai 2023
Wieder Alarm um drei Uhr morgens, Explosionen in unserem Viertel, ein Auto des Nachbarn fing Feuer, weil ein Trümmerstück von einer Militärdrohne darauf gefallen ist. Ich verwandle mich allmählich in einen Klumpen aus Hass und Müdigkeit. Ich versuche nicht aufzugeben, wegen Leshа, es ist schon schwer genug für ihn. Auf der Arbeit gab es ein Treffen mit Geschäftsleuten aus Kharkiw, nach dem wir zusammen in einem Restaurant zu Mittag gegessen haben.
Irgendwann, als wir bereits Dessert aßen, ließ ein Kind am Nachbartisch seinen Löffel fallen. Ich dachte, es liegt an meinem empfindlichen Gehör und dass ich seit Beginn des Krieges zu ängstlich auf laute Geräusche reagiere. Aber im Vergleich zur Reaktion der Charkiwer schien meine Angst vor dem Staubsaugerlärm so normal wie nur möglich zu sein.
Vier erwachsene Männer erstarrten in verschiedenen Haltungen, drei lagen auf dem Boden und schützten ihren Kopf oder ihre Ohren mit den Händen, und einer kauerte unter dem Tisch.
Ich weiß nicht einmal, wer mehr Angst hatte: diese Männer oder das Kind, das selbst nicht verstand, wie es mit einer einzigen zufälligen Handlung solch ein Chaos auslösen konnte.
Heute habe ich erkannt, wie viel Glück ich habe, dass ich nicht so psychisch traumatisiert bin, wie ich es sein könnte, wenn ich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen wäre. Ich habe enormes Glück, zu leben und nicht nur zu überleben. Und obwohl dieses Leben von den Spuren des Krieges überzogen ist, die nicht immer sofort erkennbar sind, ist das, was ich habe, ein riesiges Privileg.
18. Mai 2023
Heute war es ruhig, ich habe wieder mit meinen Freundinnen Kaffee getrunken und den warmen sonnigen Tag genossen.
21. Mai 2023
Ich war den ganzen Tag über ziemlich produktiv, habe ein paar Kundengespräche gemacht und einen Bericht abgegeben. Eine Sitzung musste ich wegen eines Luftangriffs absagen, aber das ist kein grosses Problem. Am Abend haben Lesha und ich es sogar geschafft, ins Kino zu gehen.