Fünf Jahre Gymnasium – was bleibt?
Emma Lotta Matzingers Tage am Gymnasium sind gezählt, nicht nur im metaphorischen Sinne – sie hat sie wirklich gezählt. Spoiler: es sind nicht mehr viele. Unzählbar sind hingegen die Erinnerungen, welche sie während ihrer Zeit am Gymi machte.
20. Mai 2022
An meinem Fenster hängt ein Zettel mit sechzig blauen Smileys. Sechzig Smileys für sechzig verbleibende Schultage. Jeden Abend male ich ein Smiley aus. Je farbiger der Zettel wird, desto bewusster wird mir das nahende Ende meiner Schulzeit.
Ich brüte über meinen 1001 Ideen für die Gestaltung meines Zwischenjahres, der Zukunft. Durchforste das Internet nach Praktikumsstellen und Nebenjobs, informiere mich über Studiengänge, überarbeite meine Liste von Traumreisezielen. Plötzlich ist so vieles möglich.
Eine Lebensphase neigt sich dem Ende zu, die neue ist im Begriff zu beginnen.
Von dieser Zeit am Gymnasium – «was bleibt?»
Alltag
Die überfüllte S9 um 7.30 Uhr, die Gespräche über Prüfungen schon im ersten Zug. Der Weg vom Bahnhof bis zur KZU, so viele Male gelaufen, immer mit anderer Musik auf den Ohren. Der Fussgängerstreifen, wo die Autos nie halten.
Ich fühle die tiefstehende Sonne der frühen Morgenstunden auf meinem Gesicht und sehe diese grossen Betonblöcke. Hässlich und trotzdem mit speziellem Charme. Sie werden mich immer an über zweitausend Schulstunden an der Kantonsschule Zürcher Unterland erinnern.
In meinen Ohren ertönt die Schulglocke. Ich zähle die Treppenstufen bis in den vierten Stock und setze mich an meinen Platz, dessen Position sich von Zimmer zu Zimmer kaum ändert. Die vertraute Sicht auf die unterrichtende Lehrperson, das Klingeln der Kuhglocken, welches durch die offenen Fenster schwingt. Von Zeit zu Zeit erfasst ein verhaltenes Lachen die Klasse.
Später, die aufregende Suche nach einem freien Schulzimmer für die Mittagspause.
Der Geschmack des Tomaten-Mozzarella-Sandwiches, welches mit jedem Semester kleiner wird, dessen Preis hingegen stets derselbe bleibt. Das gummige Stück Tiefkühlpizza für drei Franken fünfzig, der grosse Cappuccino, welcher für Mensaverhältnisse gar nicht so schlecht schmeckt. Die aufmerksamen Mensamitarbeiterinnen, die für alle Schüler*innen ein aufmunterndes Wort bereithalten. Meterlange Schlangen vor der Mikrowelle.
Nach maximal acht Stunden in den charmanten Betonblöcken folgen:
Ironische Sprüche über Ereignisse sich in die Länge ziehender Schultage. Ein kollektives Aufatmen beim Gedanken, an die abgegebenen, vollgekritzelten Prüfungen. Meine zufallenden Augen, der Kopf angelehnt ans, von der Sonne gewärmte, Fenster des Postautos. Die über mich hereinbrechende Entspannung, sobald ich wieder zu Hause bin. Gleichzeitig eine fortwährende innere Unruhe. Der Diskurs zwischen «für die Schule arbeiten» und «meine unmittelbaren Bedürfnisse befriedigen» scheint endlos.
Eindrücke, die für immer bleiben.
Klasse
Dann ist da meine Klasse; siebzehn Frauen, fünf Tage die Woche während mehreren Stunden zusammen und zur Interaktion aufgefordert. Die Zeit in dieser Klasse war nicht immer leicht für mich. Im Gymnasium herrscht die Grundstimmung der Konkurrenz, zusätzlich stach ich mit meiner politischen Einstellung heraus. Gleichzeitig bin ich unglaublich dankbar für meine Klasse. Wir erlebten zusammen Momente der Gemeinsamkeit genauso wie Momente des Egoismus. Montags lachten wir zusammen über die witzige Art der einen Lehrperson. Freitags diskutierten wir ewig über das Verschieben dieser einen Prüfung.
Das Zusammensein mit meiner Klasse lehrte mich Gemeinsamkeit trotz Verschiedenheit.
Lehrpersonen
Lehrpersonen polarisieren. Auf der einen Seite haben sie den Auftrag, den Schüler*innen den Lernstoff auf möglichst neutrale Weise beizubringen. Auf der anderen Seite sind Lehrpersonen Menschen mit einer Persönlichkeit und verschiedenen Stimmungslagen.
Mensch mag eine Lehrperson oder mensch mag sie nicht.
Geschickte Schüler*innen können ihre emotionale Wahrnehmung der Lehrperson ignorieren, sich bloss auf den Stoff konzentrieren. Ich konnte dies nie. Aus diesem Grund wird mir insbesondere meine persönliche Beziehung zu der ein oder anderen Lehrperson in Erinnerung bleiben.
So lernte ich beispielsweise von meiner Sportlehrerin, wie wichtig Sport für das emotionale Wohlbefinden ist. Durch ihre zusätzliche Funktion als Vertrauenslehrerin der KZU vermittelte sie mir ein Grundvertrauen. Ich wusste, wenn alle Stricke reissen, wird sie mir mit einem offenen Ohr und beratenden Worten zur Seite stehen.
Meine Französischlehrerin inspirierte mich immer wieder aufs Neue. Einerseits bewunderte ich ihre Leidenschaft für die romanischen Sprachen sowie ihre ausgeprägte Literaturkenntnis. Andererseits fand ich ihre Authentizität und damit verbunden ihre Fähigkeit, jede*n Schüler*in auf eine individuelle, humorvolle Weise in den Unterricht miteinzubeziehen bemerkenswert. Ich fühlte, dass ich willkommen bin in ihrem Unterricht. So wie ich bin. Diese Ausstrahlung möchte ich in die Welt hinaustragen.
Der Unterricht meines Deutschlehrers liess mich eine neue Sicht auf die deutsche Sprache erkennen und führte mich an eine neue Art des Schreibens heran. Dieses Wissen ist sehr wertvoll für mich.
Lehrerinnen und Lehrer; Vorbild, Inspiration und doch Autoritätsperson. Zudem nicht selten Projektionsfläche für den alltäglichen Schulfrust.
Bildung
Ein Grossteil meines Wissens hat seinen Ursprung im Gymnasium. In dreizehn verschiedenen Fachbereichen wurde mir Basiswissen vermittelt, welches mal mehr, mal weniger dazu motivierte, mich tiefergehender über das Thema zu informieren. Meine Leidenschaft ist die Literatur, respektive das Schreiben. Ohne den Lernstoff des Gymnasiums hätte ich mein Wissen in diesen Bereichen nicht so breit vertiefen können. Zudem denke ich, dass das Gymnasium sehr gute Voraussetzungen schafft, um das Zeitgeschehen differenziert zu betrachten.
Kein anderer Lebensweg bietet jungen Menschen Allgemeinwissen in diesem Ausmass.
Nicht alles ist rosig
Der Leistungsdruck war enorm, viel zu hoch. Ich war häufig gestresst und sah Berge von Arbeit vor mir, welche mir unerklimmbar erschienen. In jedem Fach wurde von den Lehrpersonen die Bestleistung erwartet. Wie unrealistisch diese Vorstellung ist, wurde mir erst in den letzten zwei Jahren meiner Schulzeit, mit der entsprechenden Reife, klarer. Ich lernte, bewusst Prioritäten zu setzen. Unterstützende Strukturen wären hier nichtsdestotrotz sehr wünschenswert.
Leider ist im Leben nie alles rosig. Somit bleiben mir nicht nur positive, leichte Erfahrungen in Erinnerung, wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke.
Was bleibt ist (nicht) Wissen
In meiner Schulzeit habe ich unendlich viele Erfahrungen gesammelt. Ich hatte Erfolg, bin gescheitert, habe gelernt und vergessen. Auf die Art, wie mensch in jeder Lebensphase Erfolge hat, scheitert, lernt und vergisst.
Von nun an trage ich einen Rucksack. Er ist beschriftet mit Gymnasium. In rot, gelb, glitzernden Regenbogenfarben. Mit diesem Rucksack bereise ich die Welt. Er enthält errungenes Wissen über meine Persönlichkeit, zwischenmenschliche Beziehungen, Wissen über die Geschichte und Funktion der Welt.
Wenn ich daran denke, wie jung ich bin und wie viel Leben mir noch bevorsteht, wird mir bewusst, wie viele Erfahrungen ich noch machen werde, wie viele Rucksäcke schultern, wie viel neues Wissen aufnehmen.
Ich atme ein und mir bleibt Wissen. Ich atme aus. Es bleibt genauso das Nicht-Wissen.
Emma Lotta Matzinger hat an unserem Kreativitätswettbewerb «Zwischenstunde» teilgenommen, ihr Beitrag wurde von der Jury prämiert. Als Preis hat sie ein Praktikum bei «Die Zürcher Mittelschulen» gewählt und im Zuge dessen diesen Beitrag erstellt.
Nicht nur Emma Lotta denkt an ihre Zeit an der Mittelschule zurück. Erhalte in diesem Beitrag einen Einblick in die Erinnerungen von ehemaligen Mittelschüler*innen zwischen zwanzig und achtzig Jahren.