«Schulsozialarbeit soll so selbstverständlich zur Mittelschule gehören wie zur Volksschule»
Seit letztem Sommer läuft ein Pilotprojekt zur Schulsozialarbeit im Kanton Zürich. Acht von 22 Mittelschulen bieten sie an. Die Schulsozialarbeiterinnen Judith Bolliger von der Kantonsschule Zürcher Unterland und Brigitte Lamprecht von der Kantonsschule Rychenberg berichten aus ihrem Berufsalltag.
27. Februar 2023
Was bietet die Schulsozialarbeit (SSA) und wo sehen Sie den grössten Nutzen?
Brigitte Lamprecht (BL): Schulsozialarbeit bietet niederschwellige Unterstützung in Form von Beratung und Begleitung für Schüler*innen, aber auch für Eltern, Lehrpersonen und Schulleitungen an. SSA setzt früh an, ein grosser Nutzen ist deshalb sicherlich die Früherkennung. Auch das interdisziplinäre Arbeiten und die Vernetzung ist in vielen Fällen sehr hilfreich.
Judith Bolliger (JB): Wir sind unabhängige Vertrauenspersonen; sind einerseits in akuten Situationen da, hören zu, trösten, machen Mut, knüpfen Kontakte und vermitteln. Wir begleiten aber auch längerfristig, zum Beispiel bei familiär belastenden Konstellationen, bei denen es keine schnelle Lösung gibt.
Mit welchen Anliegen kommen die Schüler*innen (am häufigsten) zu Ihnen?
BL: Viele der Themen, mit denen die Jugendlichen zu uns kommen, könnte man allgemein unter psychischer Gesundheit zusammenfassen. Einige Schüler*innen leiden unter Leistungsdruck, haben sich in Bezug auf das Lernen beispielsweise in einen Teufelskreis von «Aufschieben – unter Druck kommen – blockiert sein – auf den letzten Drücker lernen – wütend auf sich selbst sein – schlechte Prüfungen schreiben» manövriert. Andere leiden schon längere Zeit still vor sich hin, sind traurig, unmotiviert oder körperlich erschöpft, vermuten eine Depression, aber trauen sich nicht, mit jemandem aus dem engeren Umfeld zu sprechen. Auch unter Panikattacken und/oder Ängsten leiden viele Schüler*innen. Es kommt öfters vor, dass sich jemand in der Klasse ausgeschlossen fühlt, gemobbt wird. Fragen zu Freundschaft und Liebe, sexueller Orientierung oder Identität sind bei den Jugendlichen sehr präsent. Auch Verluste, Krankheit, Essprobleme, Sucht und ein belastetes Elternhaus, psychische oder physische Gewalt sind wiederkehrende Themen.
JB: Das häufigste Thema in meinen Beratungen ist Umgang mit schulischem Druck. Viele fühlen sich überfordert mit den Aufgaben und Prüfungen. Was für mich als SSA an der Kantonsschule neu ist im Vergleich zur Volksschule: Es gibt viele sehr ehrgeizige Schüler*innen. Sie machen sich selber grossen Druck, sind enttäuscht, wenn sie «nur eine 5» haben. Ich lerne Jugendliche kennen, die sich in einem ungesunden Masse für die Schule einsetzen. Sie investieren jede Minute ins Lernen, sind sehr streng mit sich selber. Freundschaften pflegen, Freizeit, Hobbys oder auch Aktivitäten mit der Familie bleiben auf der Strecke.
Psychische Erkrankungen haben in den letzten Jahren stetig zugenommen. Wie reagieren die Schulen darauf?
BL: Die meisten Mittelschulen hatten bereits vor dem Pilotprojekt eigene Beratungsangebote für ihre Schüler*innen. An der Kantonsschule Rychenberg gibt es beispielsweise seit mehreren Jahren ein Care-Team, bestehend aus Lehrpersonen und Seelsorger*innen. Auch dürfen sich die Schüler*innen direkt an die Schulpsycholog*in oder Schulärzt*in wenden. Es gibt präventive Massnahmen wie die Gesundheitstage, wo Schüler*innen zum Beispiel verschiedene Workshops besuchen können. Weil das Thema psychische Gesundheit so präsent ist, werden ungute Veränderungen vom Kollegium vermutlich schneller wahrgenommen als früher. Befindet sich eine Schüler*in in einer Krise, ist beispielsweise erkrankt und ein Klinikaufenthalt ist nötig, nutzt die Schule ihren Spielraum, zum Beispiel in der Anwendung des Paragrafen 13 des Promotionsreglement für die Gymnasien des Kantons Zürich. Es braucht in der Zukunft aber dringend noch weitere Massnahmen. Es gibt mehrere empfehlenswerte Projekte für die Gesundheitsförderung, an welchen Mittelschulen teilnehmen können, wie beispielsweise das Pilotprojekt «Stress? Wir packen das!» von Radix.
JB: In den Beratungen stelle ich häufig die Frage: «Was kannst du selber tun, dass es dir besser geht? Was tut dir gut? Wo und wie kannst du auftanken?» Ich finde es interessant, mit den Schüler*innen in diese Richtung zu suchen. Das stärkt und richtet den Blick neu aus. Was mich überrascht und freut: Ich erlebe die KZU als sehr offen und unterstützend im Umgang mit Schüler*innen, die psychische Probleme haben. Die Schulleitung und die Lehrpersonen sind bereit, individuelle Lösungswege zu gehen, zum Beispiel, indem Nachteilsausgleiche ermöglicht werden.
Was leistet die SSA im Bereich Prävention?
BL: Punktuelle Events durch die SSA mit dem Ziel einer präventiven Wirkung sind an solch grossen Schulen wenig zielführend. Es braucht für wirkungsvolle Prävention ein stetes Dranbleiben, das bedeutet, dass ein bearbeitetes Thema auch in den Unterrichtseinheiten nachbearbeitet werden müsste. Meist verfügt die SSA auch nicht über ausreichend Ressourcen für derartige Leistungen. Im Rychenberg ist die SSA aber beispielsweise Mitglied in der Gesundheitskommission, wo gemeinsam Massnahmen für die Schule geplant werden können. Aktuell starten wir zudem mit dem Projekt StandUp, Initiative gegen Mobbing.
JB: Ich arbeite an der KZU auch mit in der KGG (Kommission Gesundheit und Gemeinschaft). Ein aktueller Schwerpunkt ist BYOD. Der Umgang mit den Geräten verändert den Unterricht, die Pausen, die Kontakte in den Klassen etc. Das ist eine grosse Herausforderung für die Schüler*innen und die Lehrpersonen. Events gibt es einige. Ein Beispiel: Für die 1. Klassen des Untergymis gibt es ein Projekt im Rahmen der Suchtprävention. Lehrpersonen bilden Tandems und gestalten zwei Halbtage mit den Klassen. Ich werde mit einem Lehrer zusammen auch ein Tandem bilden und bin bereits gespannt auf die konkrete Planung. Ein anderes Beispiel: Zur Förderung und Festigung eines guten Klassenklimas biete ich Lektionen an, in denen mit Übungen und Spielen Dynamiken in Klassen positiv verändert werden können. Generell muss man aber sagen, dass aufgrund der knappen Ressourcen nur wenig Prävention, Aufbau- und Vernetzungsarbeit möglich ist. Der Schwerpunkt liegt in der Einzelfallhilfe.
Wie gehen Sie vor, um eine vertrauensvolle Beziehung zu den Schüler*innen, Eltern und Lehrpersonen aufzubauen?
BL: Zentral ist, dass wir uns konsequent an die Schweigepflicht halten, sodass unser Gegenüber uns auch Vertrauliches erzählen kann und sich sicher fühlt. Echtes Interesse für die Lebenswelt des Gegenübers und diesen Menschen wirklich kennenlernen zu wollen ist wichtig. Ich denke, es hilft auch, dass wir den Schüler*innen wohlwollend und wertfrei begegnen, sie ihre eigenen Ziele formulieren können und wir schnellstmöglich ihre persönlichen Ressourcen aktivieren.
Bei den Lehrpersonen und Eltern sind es vermutlich dieselben Grundsätze, die eine gute Beziehung ermöglichen. Hinzu kommt, dass mit jedem Austausch und jeder gemeinsamen Erfahrung das Vertrauen wachsen kann. Mir persönlich ist es ganz wichtig, dass wir immer auch etwas zu lachen finden, sei das Thema noch so schwer.
JB: Das geht mir genauso. Da kann ich nichts ergänzen.
Mit welchen Fachstellen arbeiten Sie zusammen?
BL: Ich kann eine Schüler*in nach Absprache beispielsweise bei unserer Schulpsycholog*in anmelden, zum Beispiel für eine Abklärung auf eine Depression. Je nach Fallart kann es eine Zusammenarbeit mit dem kjz (Kinder- und Jugendzentrum), der KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde), dem KJPP (Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie), der IPW (Integrierte Psychiatrie Winterthur), einer Opferberatungsstelle, der Suchtprävention usw. geben. In Winterthur hatte ich auch schon mit der Fachstelle Ü18 in Bezug auf eine volljährige Schüler*in zu tun oder mit der Fachstelle Radikalismus. Manchmal ist es sinnvoll, mit dem MBA Rücksprache zu nehmen. Wir können dort jederzeit an den Rechtsdienst gelangen.
JB: Im Moment gibt es eine kleine Arbeitsgruppe in unserer Pilotprojektfachgruppe, die sich mit den Schnittstellen zu unseren Zusammenarbeitspartner*innen befasst. Im Arbeitsalltag zeigt sich, dass die Vernetzung gut investierte Zeit ist: Die Zusammenarbeit wird dadurch stark erleichtert.
Was sind die Herausforderungen in Ihrem Beruf und mit wem sprechen Sie, wenn Sie einmal Hilfe brauchen?
BL: Als Schulsozialarbeiter*innen bearbeiten wir sehr vielfältige Themen, müssen ein breites Know-how und vertiefte Beratungserfahrung mitbringen. Wenn wir eine Neuanmeldung erhalten, haben wir keine Ahnung, was uns inhaltlich erwartet und müssen sehr flexibel auf jegliche Situationen reagieren können. Die Arbeit mit den jungen Menschen in den Beratungen braucht viel Feingefühl, nicht immer ist es dabei leicht, die nötige Distanz zu wahren. Austausch ist elementar, einerseits für die eigene Gesundheit, aber auch für die Gewährleistung der Qualität in der Arbeit. Wir haben institutionalisierte Gefässe wie Intervision, Supervision und Weiterbildung. Wenn ich persönlich einmal mit einem Fall nicht weiterkomme, tausche ich mich bilateral mit einer Kolleg*in aus unserer SSA-Gruppe aus.
JB: Als die grösste Herausforderung in meinem Berufsalltag sehe ich die unterschiedlichen Ansprüche und Bedürfnisse von Schüler*in, Lehrperson, Eltern, Schulleitung. Ich versuche eine allparteiliche Haltung einzunehmen, fokussiere mich gleichzeitig auf den/die Schüler*in. Da gelingt nicht immer der perfekte Spagat. Ich bin dankbar um die Supervision und unsere kollegiale Intervision. Man kann eigene Fälle einbringen, Fragen klären und von andern lernen.
Was sind Erfolgsmomente in Ihrem Beruf?
BL: Ein Erfolg ist für mich bereits eine gelungene Beratung, wenn mein Gegenüber sich gehört und verstanden gefühlt hat, eine Perspektive erhalten hat, vielleicht mit einem ersten Handlungsplan mein Büro verlässt, gestärkt und oft schon in einer etwas besseren Verfassung ist als beim Ankommen. Auch wenn in Zusammenarbeit mit Lehrpersonen, Schulleitung, vielleicht Eltern oder weiteren Beteiligten Lösungen, zum Beispiel ein gut strukturierter Wiedereinstieg in den Schulalltag nach einem Klinikaufenthalt, gefunden werden kann. Schulsozialarbeit bietet keine fertigen Lösungen, sondern wir aktivieren und begleiten die Klient*innen auf dem Lösungsweg. Manchmal reicht ein einziges Gespräch, manchmal braucht es eine längerfristige Begleitung. Ein Erfolg kann aber auch sein, wenn ich für eine Triage motivieren konnte und diese dann gelingt.
JB: Die grössten Erfolgsmomente erlebe ich, wenn Fortschritte sichtbar werden. Zum Beispiel, wenn ein Konflikt gelöst werden konnte, jemand wieder gerne zur Schule kommt, jemand sich endlich den Eltern anvertrauen konnte, im Gang wieder gelacht wird etc.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Schulsozialarbeit an Ihrer Schule und allgemein?
BL: Ich wünsche mir, dass die Schulsozialarbeit sich an den Mittelschulen etablieren kann, mit allen Anpassungen, die in Unterscheidung zur Volksschule noch nötig sind. Natürlich erhoffe ich mir das auch für «meine» Schule. Und ich wünsche mir, dass es alltäglich wird, SSA in Anspruch zu nehmen, auch frühzeitig, nicht nur im äussersten Notfall, und zwar von allen Anspruchsgruppen! Ideal wäre auch, wenn in Zukunft mehr Stellenprozente zur Verfügung stehen würden, insbesondere um vermehrt auch präventive Angebote anbieten zu können.
JB: Ja, die SSA soll so selbstverständlich zur Mittelschule gehören wie zur Volksschule. Soziale Arbeit in der Schule ist das jüngste Wirkungsfeld der Sozialen Arbeit. Ich wünsche mir, dass die SSA auf der gesamten Sek II wachsen und weiterhin als eine echte Unterstützung wahrgenommen werden kann.