Wiedersehen und -hören nach 30 Jahren
Wie ein Russischlehrer nach dreissig Jahren ein Wiedersehen mit seiner eigenen Tonbandkassette feiern konnte und was das mit Kaviar und Japan zu tun hat.
23. Mai 2023
Alexander Ionov (seit 2006) und Urs Helfenstein (seit 2012) sind Sprachlehrer, die über Umwege an die Kantonsschulen Freudenberg und Enge kamen. Ihre Unterrichtssprachen sind Russisch und Japanisch. So verschieden die Sprachen, so nahe die Länder. Russland ist dasjenige Land, das am wenigsten weit von Japan entfernt liegt. Auch sprachlich hat sich das niedergeschlagen: Das japanische Wort «Ikura», das in unseren Breitengraden viele vom Sushiessen kennen, stammt beispielsweise vom russischen Wort «ikra» (Kaviar) ab.
Von Russisch zu Japanisch zu Russisch
Für Urs Helfenstein war bereits als KFR-Schüler (1988 – 1994) klar, dass er Russisch lernen möchte. Als er endlich ein Freifach wählen konnte – im Freudenberg ist das seit jeher ab der 5. Klasse möglich – stand plötzlich Japanisch zur Auswahl. Russisch musste warten. Dies war dem damaligen Japanboom, einigen proaktiven Schülern (und Eltern) sowie Heinrich Reinfried zu verdanken, dem Japanisch-Unterrichtspionier an Schweizer Gymnasien. So entschied sich Urs trotz allen Vorsätzen für Japanisch. Sein Sandkastenfreund Markus jedoch wählte wie abgemacht Russisch, das damals von Agota Horvath unterrichtet wurde.
Später holte Urs Helfenstein sein Russischlernbedürfnis mit einem Kurs an der Migros-Klubschule und einem Intensivlernaufenthalt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew nach. Kurz darauf erfuhr er, dass Alexander Ionov an der Kantonsschule Enge auch Lehrerrussisch anbietet. Seither besucht Urs mit anderen Lehrerinnen jeweils am Dienstagnachmittag dieses Angebot.
Von der Bahnhofstrasse in die Aula Freudenberg
Von Einladungen zu Auftritten, die regelmässig in den Lehrpersonenfächern lagen, war bereits allgemein bekannt, dass Alexander Ionov neben dem Unterricht auch Musik macht. In einer der Lektionen zeigte Alexander kürzlich eine uralte Aufnahme eines lokalen TV-Senders aus Zürich, in dem er in einer Band namens Badolaika mit seiner Balalaika auftrat.
Alexander erklärte, dass er anfangs der 1990-er Jahre mit drei Studienkollegen als Strassenmusiker in die Schweiz kam. Ohne ein Wort Deutsch zu können und die Gepflogenheiten zu kennen, begannen sie an der Bahnhofstrasse in Zürich zu spielen. Bis die Polizei sie wegwies, gelang es ihnen gerade, genug Geld zu sammeln, um nach Basel weiterzufahren, wo sie einen Kontakt hatten.
Dies erinnerte Urs Helfenstein daran, dass ihn sein oben erwähnter Sandkastenfreund 1993 an ein Konzert in die gemeinsame Aula von Freudenberg und Enge einlud, wo eine russische Gruppe ein Konzert spielte.
All das versuchte Urs im Unterricht auf Russisch zu sagen, auch: «Diese hatte jedoch einen anderen Namen, nämlich Kalinka Quartet.» Bei der Erwähnung dieses Namens öffneten sich bei Alexander plötzlich die Augen in dem Mass, wie sich der Unterkiefer senkte: «Это были мы!» Im Wissen um seine mangelhaften Russischfähigkeiten warf Urs ein: «Nein, nein, die hiessen nicht wie ihr im TV-Ausschnitt, sondern Kalinka Quartet.» Doch Alexander insistierte: «Als wir zum ersten Mal in die Schweiz kamen, hiessen wir so – erst beim zweiten Besuch änderten wir unseren Namen auf Badolaika.» Im Klassenzimmer herrschte weiterhin eine gewisse Ungläubigkeit ob des Gesagten.
Eine alte Kassette beweist: Wir kennen uns schon seit Jahren
Zufälligerweise sass Agota Horvath 1993 in demselben Flugzeug nach Zürich wie das Kalinka Quartet und sprach die Bandmitglieder an. Durch diesen Zufall entstand der damalige Auftritt in der Aula. Und durch weitere Zufälle kam heraus, dass sich die Wege von Sascha und Urs gut dreissig Jahre zuvor bereits gekreuzt hatten.
Es geht noch weiter.
Urs erinnert sich, dass er damals eine Tonbandkassette kaufte, denn die Musik gefiel ihm und die Band brauchte finanzielle Unterstützung. Leider landeten die meisten Kassetten bei einem Umzug im Frühjahr 2022 im Müll. Doch siehe da – die Kassette von Kalinka Quartet fand sich auch im neuen Keller wieder! So kam es zu einem langjährigen Wiedersehen zwischen Musiker und Kassette, deren Cover Alexander jeweils selbst kopierte und mit der Schere zuschnitt. Selbst besitzt er schon lange kein Exemplar dieser Rarität mehr. Zum Glück fand sich an der Schule noch ein eingemotteter Kasettenrekorder! Ein bewegender Moment.
In den Jahresberichten vom Freudenberg aus den Jahren 1992 bis 1994 fand sich leider weder Erwähnung noch Bildmaterial von dem damaligen Auftritt in der Aula. Ein weiterer Beweis dafür, dass nur in die Annalen eingeht, was auch tatsächlich in den Jahresberichten erwähnt wird.
Heute heisst Alexanders Band Totschna und hat regelmässig Auftritte. Hier geht’s zu ihrem Webauftritt:
Urs ist weiterhin so unmusikalisch wie damals und kennt Musik nur vom Hören.
Zu den Personen
Alexander Ionov studierte zuerst Musik in Moskau und später Russistik in der Schweiz. Im Jahr 2006 übernahm er an der Kantonsschule Enge die Stelle von seiner Didaktiklehrerin Elisabeth Goslicka. Er unterrichtet Russisch als Schwerpunktfach und als Freifach an den Kantonsschulen Enge, Limmattal und Wiedikon. Die Schüler vom Freudenberg dürfen das Freifach Russisch an der Enge besuchen.
Urs Helfenstein studierte Japanologie in Zürich und arbeitet seit 2002 bei einer Grossbank im Privatkundengeschäft. Er hat von 2002 bis 2009 an der Volkshochschule Zürich als Hobby Japanisch unterrichtet. Im Jahr 2012 übernahm er an den Kantonsschulen Freudenberg, Liceo und Enge die Stelle seines eigenen Lehrers (auch Didaktik…) und Mentors Heinrich Reinfried.