Ein Buch als Maturitätsarbeit: Flurina Waldners «Amezaneï»
Griechische Mythen, Schreiben, Zeichnen, Feminismus – Flurina Waldner hat viele Interessen. Doch wie soll sie diese zusammenbringen? Ganz einfach: Sie schreibt ein Kinderbuch. Ein Einblick in eine besondere Maturitätsarbeit.
20. Juli 2023
Amazonen – ein Wort, mit dem so vieles assoziiert wird. Eine selbstbestimmte Frau in der heutigen Zeit, ein kriegerisches Frauenvolk in der griechischen Mythologie. Ein Volk, dem man nachsagt, sie hätten Männer getötet, männliche Babys ausgesetzt und den Töchtern die rechte Brust abgeschnitten, damit sie besser mit Pfeil und Bogen schiessen können.
Die jahrtausendealten Erzählungen über die Amazonen sind faszinierend und bis heute populär, aber auch brutal und in der Rezeption oft erotisch aufgeladen.
Nicht gerade der ideale Stoff für ein Kinderbuch.
Ein Kinderroman auf Basis historischer Quellen – und doch voller Fantasie
Doch genau das ist es, was Flurina Waldner plant: Sie will ein Kinderbuch schreiben. Denn dieses Genre faszinierte sie schon immer und als Pfadileiterin ist sie viel in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen.
Sie taucht ein in die Welt der Amazonen und merkt: Die eignen gar nicht mal so schlecht als Identifikationsfiguren für Kinder. Denn die Amazonen sind nicht nur kämpferisch, sondern auch emanzipiert, selbstbewusst und naturverbunden. Und wenn es unzählige Piratenbücher gibt, warum sollte es nicht auch Kinderbücher über Amazonen geben?
Doch bevor Flurina Waldner anfängt zu schreiben, liest sie. Sie liest über die Amazonen und stösst im Zuge ihrer Recherchen auf ein anderes Volk, in dem reitende, kämpfende Frauen eine tragende Rolle gespielt haben dürften: Die Skythen. Im Unterschied zu den Amazonen, die zwar von den alten Griechen für real gehalten wurden, aber klar der Mythologie zuzuordnen sind, gab es die Skythen wirklich. Sie lebten im Gebiet des heutigen Südrusslands und der Ukraine als Reiternomadenvölker und es wird vermutet, dass die Erzählungen über die Amazonen durch die Skythen inspiriert wurden.
«Ich habe meinen eigenen Mythos gebastelt»
Antike Dichtung, Kunst, Geschichtsschreibung, neue archäologische Erkenntnisse – Flurina Waldner trägt alles zusammen, was sie über diese ähnlichen, aber nicht deckungsgleichen Völker finden kann.
Basierend darauf – und bewusst selektiv – entwirft sie eine eigene Kultur, eine eigene Welt, in der ihre Geschichte spielt. In der Fantasy-Literatur wird dies als «Weltenbau» bezeichnet. Die junge Autorin geht bei ihrem Weltenbau mit akribischer Genauigkeit und grosser Fantasie vor. Sie bedient sich verschiedener Quellen, pickt heraus, was passend ist, erfindet Neues, schafft eine Utopie und kreiert damit eine positive Neuinterpretation des Amazonenmythos.
Eine, die auch Kinder verstehen und mögen.
Das Buch
«Amezaneï – Vier Amazonen werden gross» wurde im Schuljahr 2022/2023 im Fach Deutsch als Maturitätsarbeit an der Kantonsschule Zürich Nord geschrieben. Auch die Illustrationen im Buch stammen von Flurina Waldner. Die Arbeit besteht aus dem eigentlichen Buch und einer Begleitdokumentation, in der die Autorin den Entstehungsprozess reflektiert und ihr Werk selber kritisch beurteilt. Die Maturitätsarbeit wurde im Rahmen der «Ausstellung ausgezeichneter Maturitätsarbeiten» prämiert.
Eine Geschichte übers Erwachsenwerden
Mit den Morgenvögeln begannen auch Menschen draussen zu singen. Nicht der gewöhnliche Melksingsang oder eine kleine Melodie des Morgens, nein, sie sangen das Lied der Geburt. Seine ewig kreisende Melodie stammte von Amezana selbst und alle ihre Töchter waren zu seinem Klang zur Welt gekommen. Wie der Wind in der Steppe die Gräser bewegt, strich das Lied in Wellen durch die Luft. Mit jeder Welle wuchs es, mehr Stimmen kamen hinzu, es wurde allmählich lauter und schneller. Auf einmal brach es ab, mittendrin, und alle grossen Stimmen machten Platz. Und da kam er, der erste Schrei, lauter und kräftiger als erwartet – aus zwei Kehlen anstatt einer.
Nach diesem Ruf wurde es still, sogar die Tiere schienen kurz innezuhalten. Und dann begann die Welt sich wieder zu bewegen, mitsamt ihren zwei neuen Mitgliedern.
Mythi, Echni, Somy und Toso wachsen behütet und doch frei als Nomadenkinder auf, inmitten der wilden Natur und in der Gemeinschaft eines reinen Frauenvolkes. Das Buch begleitet die vier Freundinnen von ihrer Geburt bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie in ihrer Kultur als Erwachsene gelten.
Es ist eine Art Coming-of-Age-Story in ungewohnter Kulisse, eine Geschichte über das Lernen, über Freundschaft, über das Scheitern, über Angst, Stolz und Freude. Flurina Waldner schreibt kraftvoll, bildhaft und detailliert. Aufwändig beschreibt die Autorin die Lebenswelt, in der sich die Protagonistinnen ihres Buches bewegen.
«Es ist wahrscheinlich nicht mein letztes Buch»
Ein Jahr lang hat Flurina Waldner an ihrem Buch gearbeitet. Eine lange Zeit, die aber doch von Zeitdruck geprägt war. So ist ihr Rat an alle, die sich selber an das Abenteuer «Buch als Maturitätsarbeit» wagen wollen: Früh genug anfangen! Denn es gibt neben dem Schreiben viel zu tun, das weiss die junge Autorin. Dinge, die Spass machen – für Flurina Waldner waren das die Recherche, das Schreiben und der Weltenbau –, aber auch Sachen, die weniger Freude bereiten – der Zeitdruck und die vielen Entscheidungen.
Sie habe sehr viel gelernt, sagt Flurina Waldner, und sie kann sich gut vorstellen, ihr Wissen übers Bücherschreiben noch einmal anzuwenden. Der Berufswunsch Autorin ist im Hinterkopf fest verankert, auch wenn ihr klar ist: Das ist ein hartes Pflaster. Wohin sie ihr Weg führt, ist heute noch nicht klar. So macht sie erst einmal ein Zwischenjahr und schaut, wie sich der Plot ihres Lebens entwickelt.
Maturitätsarbeiten
Jährlich werden im Kanton Zürich zwischen 2500 und 3000 Maturitätsarbeiten verfasst. Die Themen und Formate sind äusserst vielseitig. Jedes Jahr im Mai werden rund 50 ausgezeichnete Arbeiten ausgestellt. Diese sind hier zu finden: maturiaetsarbeiten.ch.
Auf «Die Zürcher Mittelschulen» stellen wir regelmässig einzelne Arbeiten vor, zum Beispiel diese hier: