Kindergeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg
Jedes Jahr werden im Kanton Zürich rund 2500 Maturitätsarbeiten verfasst. Auch Jessica Thalmann hat eine solche geschrieben: Sie hat mit Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, über ihre Kindheitserinnerungen gesprochen und diese in einem Buch festgehalten.
7. Februar 2022
«Oma, erzähl mir die Geschichte vom weissen Tuch!», forderte Jessica Thalmann ihre deutsche Grossmutter schon als kleines Kind immer wieder auf. Und ihre Oma erzählte ihr von der Flucht vor den Tieffliegern in Karlsruhe, von dem vergessenen weissen Tuch auf dem Leiterwagen, das ihre Anwesenheit hätte verraten können, und davon, dass sie ihre Mutter an dem Tag zum ersten Mal weinen sah, als sie sich am Waldrand versteckten.
Mein Gott, die sehen den Leiterwagen, da liegt doch das weisse Tuch drauf. Nun wissen sie, dass wir da sind. Jetzt sind wir dran. Aus Bombenwetter, Kindergeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg
«Solche Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg waren Teil meines Alltags», erzählt die 19-jährige Maturandin des Realgymnasiums Rämibühl. «Ich habe sie nicht hinterfragt und geschichtlich einordnen konnte ich sie erst viel später. Berührt haben mich aber alle, besonders die des weissen Tuches. Meine Urgrossmutter hatte bereits den Ersten Weltkrieg überlebt. Zum Zeitpunkt des Zweiten Weltkrieges war sie mit vier Kindern alleine; meine Grossmutter, die dieses Jahr 86 Jahre alt wird, war die Drittjüngste. Sie sah ihre Mutter nur dreimal in ihrem Leben weinen. Einmal an besagtem Tag, weil sie das Gefühl hatte, sie hätte ihre Familie verraten.»
Die Tatsache, dass ein doofes weisses Tuch einen das Leben kosten könne; die Vermutung, dass die Flieger die Frauen gesehen, aber nicht gefeuert hätten; die Erkenntnis, wie schnell alles vorbei sein könne – alles Gründe, wieso sich von den etlichen Geschichten ihrer Grossmutter gerade diese bei ihr eingebrannt habe, erklärt Jessica.
Dreissig Zeitzeug*innen befragt
So war ihr bereits als Achtjährige klar: «Meine Maturarbeit wird einst etwas Literarisches über den Zweiten Weltkrieg sein.» Entstanden ist das Buch «Bombenwetter – Kindergeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg». Jessica hat dreissig Zeitzeug*innen befragt, die unter nationalsozialistischer Herrschaft gelebt haben. Um ein möglichst breites Bild zu zeichnen, hat sie sich bewusst mit vielen verschiedenen Menschen unterhalten. Daraus sind Kurz- und Kürzestgeschichten entstanden, die alle einen wahren Kern haben. Das Buch ist unterteilt in verschiedene Kapitel, etwa zu den Themen Hunger und Kälte, Power-Frauen, Bomben- und Tieffliegerangriffe und Kriegsende
[...] ‹Mist, der Himmel über Kassel ist rot! In Kassel brennt es, da muss es einen Bombenangriff gegeben haben.› Meine Mutter drehte das Radio aus und zog sich die Jacke an. ‹Ich fahre mit dem Fahrrad rüber. Ich muss wissen, was aus Richard geworden ist.› Also machte sich Mutter auf, um mitten in der Nacht die über 36 Kilometer zu meinem Vater zu fahren. In die brennende Stadt. [...] Aus Bombenwetter, Kindergeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg
Es sind kleine Einblicke in grosse Momente. «Ich habe mich für sehr kurze Geschichten entschieden, da viele sich nur bruchstückhaft erinnerten», erklärt Jessica. Ein weiterer Grund: «Auch wenn alle Geschichten individuell sind, deckten sich zahlreiche Erinnerungen. Sie erzählten von Lebertran, Bombardierungen und Kindern, die von ihren überforderten Lehrpersonen im Bunker geschlagen wurden. Viele sahen im Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal in ihrem Leben eine Person of Color.»
Jessica, wie bist du bei deiner Maturarbeit vorgegangen?
Ich fing schon ein Jahr vorher mit der Recherche an. Inspiriert von den Erzählungen meiner Grossmutter wusste ich: Ich will mit Zeitzeug*innen des Zweiten Weltkrieges reden und ihre Geschichten schriftlich festhalten. Ich sprach unter anderem mit meiner Grossmutter, mit ihren Schulfreund*innen und kontaktierte deutsche, polnische, tschechische, italienische und elsässische Verwandte meiner Freund*innen. Mit der Zeit wurde ich sogar direkt von Menschen angefragt, die von meinem Projekt gehört hatten.
Wie hast du die Gespräche mit den Zeitzeug*innen geführt?
Wenn immer möglich, habe ich sie persönlich getroffen. Das war mir wichtig, da es solch persönliche Geschichten sind. Dazu bin ich während den Sommerferien zusammen mit meiner Mutter mit dem Auto durch ganz Deutschland gefahren; Frankfurt, Köln, Essen, Lüneburg, Berlin, Harz, München. Andere habe ich in der Schweiz besucht.
Wie hast du diese Gespräche erlebt?
Es war schon sehr schwierig. Ich hatte einen Fragenkatalog, aber die Gespräche haben sich dann oft in ganz eine andere Richtung entwickelt. Manche schienen sich stark vom Erlebten abgegrenzt zu haben und erzählten davon, als sei es ein Märchen. Andere holten das Fotoalbum hervor, fingen an zu weinen und mussten das Gespräch abbrechen.
Wie bist du emotional damit umgegangen?
Während den Gesprächen ging es noch. Ich habe alles für mich aufgenommen und dann emotional zur Seite gelegt, um mich später damit zu beschäftigen. Während den Autofahrten hatte ich viel Zeit, um die Geschichten zu verarbeiten. Ausserdem habe ich oft mit meinem Freund darüber gesprochen. Beim Schreiben der Texte war es so, dass ich nicht länger als eine Stunde dransitzen konnte. Dann machte es «psychisch einfach zu». Ich habe also eine Stunde geschrieben, dann eine Stunde etwas anderes gemacht, dann wieder eine Stunde geschrieben ...
[...] Wir traten auf die Strasse. Die Luft fühlte sich unglaublich stickig an und ich hatte Mühe zu atmen. Aber es war nicht dunkel, wie ich erwartet hatte, sondern taghell. Die ganze Stadt schien zu brennen. Ding, Ding, Ding. Uns gegenüber war eine ausgebrannte Kirche, in dere Turm eine helle Glocke läutete. Eine Totenglocke. Sie wurde vom Feuersturm bewegt und schien durch alles hindurchzudringen. [...]» Aus Bombenwetter, Kindergeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg
Wie viel Zeit hast du in deine Maturarbeit investiert?
Im Arbeitsjournal, das wir führen mussten, habe ich rund 200 Stunden angegeben. Das beinhaltet aber nicht die unzähligen Stunden, die ich mit Reisen und tagtäglich über die Geschichten nachdenken verbracht habe. Die meisten Interviews dauerten eine Stunde; das längste dauerte ganze vier Stunden. Verschriftlicht habe ich ja dann aber nur einen ganz kleinen Teil davon. Alle Geschichten berührten mich unglaublich und ich möchte in Zukunft sehr gerne mit dem gesammelten Material noch andere Stories machen.
Was hat dich dazu motiviert, so eine umfassende Arbeit zu machen?
Durch meine Grossmutter merkte ich: Es gibt nicht nur Kriegsverbrecher und Nazis, sondern auch die Zivilbevölkerung, die gelitten hat. Die Menschen haben mega krasse Sachen erlebt und sie haben das Bedürfnis, davon zu erzählen. Es gibt immer weniger noch lebende Zeitzeug*innen und ich finde es wichtig, dass ihre Geschichten gehört werden. Seit ich älter bin, setze ich mich immer mehr mit Politik auseinander und habe das Gefühl, dass Rechtsradikalismus wieder stärker ein Thema ist, was ich schlimm finde.
Was hast du beim Schreiben der Maturarbeit gelernt?
Ich habe gelernt, wie man ein Konzept für eine grössere Arbeit macht und gemerkt, dass Schreiben weiter Teil meines Lebens sein soll. Im Studium wird das weniger der Fall sein; wenn es mit dem Numerus Clausus klappt, möchte ich nämlich Medizin studieren.
Ausserdem habe ich einmal mehr eindrücklich vor Augen geführt bekommen, wozu Rechtsradikalismus führen kann und dass sich Erinnerungen im Laufe der Zeit verändern können. So erzählten mir beispielsweise zwei befreundete Personen vom selben Erlebnis, aber der Ausgang der Geschichte war komplett anders. Das hat mich recht aufgerüttelt.
«[...] In der Ferne hörte ich ein Donnern, also presste ich meine Hände noch stärker auf die Ohren. Mutti hatte gesagt, dass uns nichts passieren würde. Schliesslich war die Grossstadt, wo sie Bomben warfen, über hundert Kilometer weit entfernt. Ich hatte aber trotzdem Angst. Die Furcht sass ganz tief in mir drin und wollte mich von innen her auffressen. Sie wurde immer grösser, bis ich anfing zu zittern. Ich versuchte mich noch enger zusammenzukauern. Ich fühlte mich alleine. Alleine mit meiner Angst. Ich war zwar erst vier, aber mir war klar, dass in der nächsten Stadt etwas ganz Schlimmes passierte. [...]» Aus Bombenwetter, Kindergeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg