«Es widerte mich an» – Maturitätsarbeit klärt über sexuelle Belästigung auf
In ihrer Maturitätsarbeit hat Liceo-Schülerin Yara Christen eine Kampagne entwickelt, die über sexuelle Belästigung aufklärt. Sie zeigt, dass die Grenze zwischen angenehm und unangenehm nicht immer klar definierbar und individuell ist. Yara gibt Einblick in ihre Arbeit und ihre Motivation, dieses brisante Thema aufzugreifen.
1. Juni 2022
Über 2500 Maturitätsarbeiten werden jedes Jahr eingereicht. Die Schüler*innen schreiben über Verschuldung und Sucht, über Literatur, über Hexenprozesse. Sie programmieren, komponieren, bauen, sind wissenschaftlich, kreativ und künstlerisch tätig. Die Arbeiten werden auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch geschrieben. Die Vielfalt der Arbeiten ist unglaublich und zeigt sich in Auszügen an der Ausstellung der ausgezeichneten Maturitätsarbeiten, die jedes Jahr im Frühling stattfindet.
Yara Christen hat ihre Maturitätsarbeit am Liceo Artistico auf Italienisch geschrieben und sich an ein brisantes Thema herangewagt: Sie hat eine Kampagne entwickelt, die über sexuelle Belästigung aufklärt und die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert.
Die junge Frau gibt mit der Kampagne und ihrer Maturitätsarbeit Opfern von sexueller Belästigung eine Stimme. Teil der Arbeit ist es auch, die Grenze zwischen angenehm und unangenehm herauszufinden respektive zu zeigen, dass sie nicht immer klar definierbar ist.
«Meine Eltern brachten mir bei, die Welt zu hinterfragen und an eine bessere zu glauben. Sexuelle Belästigung ist ein Missstand, der zumindest in meiner Welt besteht, aber gleichzeitig verschwiegen wird.
Dadurch, dass ich kein Blatt vor den Mund nehme, spreche ich, gerade mit meinem Umfeld, offen über meine Erfahrungen – mit dem Resultat, dass mein Gegenüber oftmals ebenfalls zu erzählen beginnt. Ich habe gemerkt, dass ich mich durch die Erfahrung der anderen Personen selbst besser auf eventuell kommende Übergriffe vorbereiten kann.
Hinzu kommt das Gefühl, nicht alleine zu sein. Mit meiner Arbeit wollte ich diesen Missstand und die rechtliche Situation hinterfragen und zugleich etwas zur Enttabuisierung beitragen. Spannend dabei war herauszufinden, wie man ein solch delikates Thema behandeln sollte respektive wie man gerade in einer grafischen Arbeit das Thema mit dem verdienten Respekt verarbeitet.»
Interview mit Yara Christen
Yara, in deiner Maturitätsarbeit hast du dich mit dem Thema «Sexuelle Übergriffe» auseinandergesetzt und eine Aufklärungskampagne für Betroffene erarbeitet. Es ist mutig und wichtig, ein solches Thema heute aufzugreifen. Wie bist du auf dieses Thema gekommen, was hat dich hierzu motiviert?
Für mich und mein Umfeld ist sexuelle Belästigung ein Bestandteil des Alltags. Es ist eine Wahrheit unserer Gesellschaft, die bis vor kurzem nicht wirklich offen diskutiert wurde. Und genau diese Dringlichkeit, endlich die Verantwortung zu übernehmen und über das Thema aufzuklären, hat mich dazu motiviert meine Maturaarbeit diesem Thema zu widmen. Insbesondere möchte ich in meiner Aufklärungskampagne auf die «nicht so verheerenden» Übergriffe aufmerksam machen, da diese weniger ernst genommen werden, aber genauso verletzend sein können.
Welche Rolle spielt für dich die #MeToo-Bewegung, die seit der Weinstein-Affäre ins politische Rollen gekommen ist?
Ich finde, dass #MeToo mit Vorsicht zu geniessen ist. Auf der einen Seite möchte ich klar auch Belästigungsopfer ermutigen, sich zur Wehr zu setzen. Jedoch denke ich, ist es noch viel wichtiger, Erfahrungen zu teilen, um sich auf mögliche Situationen vorbereiten zu können. Ich finde die #MeToo-Bewegung deshalb etwas problematisch, da es förmlich zum Trend wurde und auch viele Leute daran teilhaben wollten, ohne selbst davon betroffen zu sein, was dem Thema auch etwas die Glaubwürdigkeit nehmen kann. Ich denke, es wäre wichtiger mit so einer grossen Reichweite – statt einen Hashtag zu reposten – den Frauen zu zeigen, was für eine eigene weibliche Potenz sie besitzen, um so auch ihre Selbstbestimmung zu fördern.
Wie begegnest du dem Dilemma, dass Körperberührungen einerseits ein grosses Tabu darstellen, andererseits körperliche Annäherungsversuche seit jeher zu dem Fortpflanzungsritualen des Menschen gehören? Schweden versucht hier bekanntlich ihre Bevölkerung zu einem Nein- oder Ja-Commitment zu raten, um Einvernehmlichkeit zu erzeugen. Hältst du so etwas für einen gangbaren Weg, um die Grenze zwischen zulässiger und unzulässiger Berührung zu bestimmen?
Ich denke es ist ein Anfang, jedoch bezweifle ich, dass es auf lange Sicht umsetzbar ist. Es ist vielleicht einen Anstoss, um die Kommunikation zu fördern und vielleicht auch um dem egoistischen Denken etwas entgegenzuwirken.
Hat unsere Gesellschaft heute ein falsches Bild vom eigenen und vom fremden Körper? Falls ja, warum ist das so, woher stammen die falschen Körperbilder?
Ich denke wir leben in einer sehr sexualisierten Welt, in welcher Sex im generellen Sinne eine viel zu grosse Rolle spielt, weshalb vielleicht auch die angeblichen Anforderungen (einerseits im Bezuge auf das eigene Körperbild, sowie aber auch auf sexuelle Handlungen) extrem hoch sind.
Was rätst du Betroffenen, die sich im Zuge der Kampagne im Internet bei dir melden?
Ich kann aus Gesprächen mit Betroffenen sagen, dass darüber reden unglaubliche Erleichterung bringen kann. Am besten sucht man sich einen Gesprächspartner, welchem man besonders vertraut oder man wendet sich an eine Hotline. Das Wichtigste und zugleich Schwierigste ist es, sich selbst keine Schuld zuzusprechen und sich bewusst zu sein, dass nur schon das Aufkommen eines unguten Gefühls ein Zeichen ist, dass etwas für einen nicht stimmt. Das in etwa erzähle ich und biete mein offenes Ohr und Verständnis an.
Wie sähe dein Massnahmenpaket zur Aufklärung über die Grenzen sexueller Übergriffe aus, wenn du – angenommen – Ministerin für Gesundheitsförderung wärst und jährlich ein gewisses Budget dafür einsetzen könntest? Wie könn(t)en wir dieses Problem lösen?
Ich denke ich würde viel in Anlaufstellen und Opferberatungen investieren. Es wäre mir wichtig, dass schon kleinere Kinder lernen, dass ein ungutes Gefühl nicht okay ist und sie sich dagegen wehren dürfen.
Einerseits würde ich auf Prävention im Bereich Opferschutz setzen, jedoch auch auf der Seite des Täters Aufklärungsarbeit zu leisten. Damit meine ich beispielsweise auf öffentlichen Toiletten nicht nur Plakate mit Opferberatungsnummern aufzuhängen, sondern auch Plakate mit Verhaltensregeln.
Ich denke gerade in dieser sexualisierten Welt, wo überall (z.B. in Filmen, auf Social Media und vor allem auch in der Pornografie) Berührungen und Zärtlichkeiten zelebriert werden, ist es für gewisse Menschen schwierig zu unterscheiden, was Realität ist und wie man im realen Leben mit anderen Personen umgeht.
Wenn du selbstkritisch dein Projekt betrachtest, wo liegen dessen Möglichkeiten und Grenzen?
Ich bin keine Psychologin und auch keine Anwältin, alles was ich bieten kann ist Zuspruch, eine Plattform und ein offenes Ohr. Mein Projekt ist keine Opferberatung, sondern ein Ort an welchem Erfahrungen ausgetauscht werden können, mit dem Ziel sich mental auf allfällige Übergriffe vorbereiten zu können.