«Es sind Inseln im Meer der Routine»
Wie bringt man Schüler*innen soziale und ökologische Themen näher? Diese Frage beantwortet das MNG/K&S mit einer Vielzahl an Aktivitäten. Geschichtslehrer, Mit-Organisator und -Initiator Sebastian Bott erzählt, was dabei wichtig ist und worüber er sich keine Illusionen macht.
11. Juli 2024
Sebastian Bott, am MNG/K&S gibt es verschiedene Gefässe, die den Schüler*innen soziale und ökologische Themen näherbringen möchten. Welche sind das?
Zum einen das Freifach «Entwicklungszusammenarbeit» oder wie es auch heisst: «Einsatz für eine gerechtere Welt». Das bieten wir in Zusammenarbeit mit der Organisation «International Project Aid» an.
Die Jugendlichen entscheiden sich für ein Projekt, das sie während eines knappen Jahres begleiten. Momentan geht es um ein Gesundheitszentrum in Albanien, das nach einem Erdbeben wiederaufgebaut wird, letztes Jahr organisierten wir Kleinkredite im Norden von Kamerun. Die Schüler*innen lernten am konkreten Beispiel: Was ist ein Kleinkredit, was passiert mit dem Geld in sehr armen Gebieten, wo Terrorismus eine Gefahr ist und der Klimawandel sehr intensiv wirkt? Es ist eine praktische, zielorientierte Art, diese grossen Themen fachübergreifend zur Sprache zu bringen.
Es ist eine praktische, zielorientierte Art, diese grossen Themen fachübergreifend zur Sprache zu bringen.
Das ist der soziale Bereich. Wie sieht es bei den ökologischen Themen aus?
2020, im Zuge des Klimastreiks, haben wir an allen Rämibühlschulen diskutiert, wie wir diesen Impuls aufnehmen wollen. Die Schulen haben dann eine Absichtserklärung formuliert, die Klimakrise intensiver zu diskutieren. Einigen war das zu wenig konkret und wir überlegten, wie wir Klimawandel und Nachhaltigkeit stärker gewichten könnten. Daraus entstand der Klimacampus, eine gemeinsame Initiative aller drei Rämibühlschulen.
Am MNG initiierten wir darüber hinaus die Fokuswoche Klimakrise. Diese führen wir nun seit vier Jahren durch und sie stösst auf viel Zuspruch bei Lehrpersonen und Schüler*innen.
Wie sieht diese Fokuswoche Klimakrise konkret aus?
Ein OK aus Lehrpersonen verschiedener Fächer sowie Schüler*innen bereitet die Woche längerfristig vor. Wir fahren dabei dreigleisig: Wir integrieren das Thema im Regelunterricht, bieten Veranstaltungen dazu an und sorgen für Sichtbarkeit im Schulhaus.
Wir laden Lehrpersonen ein, das Oberthema der Woche – wir hatten bisher Wald, Ernährung, Konsum, Mobilität – im Regelunterricht zur Sprache zu bringen. Wir geben das Thema gut drei Monate vorher bekannt und koordinieren die Unterrichtseinheiten.
Für den Regelunterricht ist das fakultativ und niederschwellig. Uns scheint das die einzige Möglichkeit, möglichst viele im Schulhaus zu involvieren. Wenn eine Lehrperson nicht mitmachen will, dann macht sie nicht mit. Das Thema ist komplex und nicht alle haben den gleichen Blick darauf.
Wir versuchen, unseren Fokus sichtbar zu machen, in der Eingangshalle, im Treppenhaus, mittelbar, nicht abstrakt und wenn möglich nicht für die Schüler*innen, sondern immer mit ihnen.
Weiter haben wir für jeden Jahrgang eine besondere Veranstaltung. Das kann ein Referat einer Fachperson sein oder Workshops. Beim Thema Ernährung beispielweise gingen wir in den Schulhauspark und schauten, was von den dortigen Gewächsen essbar ist, was nicht. Dieses Jahr waren wir den ganzen Tag – das war eine Premiere – mit den Zweitklässler*innen im Waldlabor der ETH beim Hönggerberg. Für die Maturklassen gibt es Podiumsdiskussionen. Dazu laden wir Wissenschaftler*innen und Jungpolitiker ein, eine Gruppe von Schüler*innen organisiert und moderiert die Veranstaltung. Dieses Jahr diskutierten wir die Biodiversitätsinitiative, da war die ETH dabei sowie Initiativ-Befürworter und -Gegner.
Drittens nutzen wir das Schulhaus als Raum für das Thema, mit Plakaten, Installationen und Ausstellungen. Beim Thema Wald durften wir vom WSL Institut eine Ausstellung übernehmen, das war super. Beim Thema Ernährung gab es z.B. einen Stand mit essbaren Insekten. Wir versuchen, unseren Fokus sichtbar zu machen, in der Eingangshalle, im Treppenhaus, mittelbar, nicht abstrakt und wenn möglich nicht für die Schüler*innen, sondern immer mit ihnen.
Es entstehen überraschende Konstellationen. Beim Thema Konsum wollten wir Obsoleszenz, den künstlichen Defekt in Geräten, darstellen. Wir machten einen Aufruf, dass Schüler*innen Geräte von zu Hause mitnehmen, die unter diese Kategorie fallen und das wurde zu einer interessanten Installation und generierte Gespräche, Fragen und Aha-Momente.
Was nehmen die Schüler*innen mit aus diesen Veranstaltungen?
Keine Ahnung (lacht schallend). Ich mache mir keine Illusionen, dass es wegen einer Woche zu einem Einstellungswandel kommt. Aber die Schüler*innen erleben, dass die Schule als Institution sich aktiv mit Fragen auseinandersetzt, die von zentraler Bedeutung für Gegenwart und Zukunft sind, insbesondere für junge Menschen. Wir schaffen einen Raum, wortwörtlich, für diese Themen, und zwar über die Einzelfächer hinaus.
Die Schule ist darauf angewiesen, konservativ zu sein, Pädagogik kann nicht in Trends agieren.
Das kann auch in Abwehr resultieren, aber es ist wertvoll, dass man darüber spricht. Es sind Inseln in einem Meer der Routine.
Die Schule ist darauf angewiesen, konservativ zu sein, Pädagogik kann nicht in Trends agieren. Wir dürfen keine Experimente mit jungen Menschen machen, wir müssen sorgfältig und verlässlich sein. Gleichzeitig sind die Bildungsinstitutionen gefordert in diesen Zeiten der Transformation, wir müssen uns Gedanken machen zum Fächerkanon, zur Interdisziplinarität und zu relevanten Unterrichtsthemen.
Das kann nur so ablaufen, dass wir Inseln schaffen, in denen wir etwas ausprobieren und reflektieren. So schaffen wir, was aus meiner Sicht nötig ist: das alte Tankschiff Schule in neue Richtungen zu lenken und den Schüler*innen und auch uns Lehrpersonen zu ermöglichen, von der Krisenmüdigkeit in die Selbstwirksamkeit hineinzuwachsen.
Was nehmen die Schüler*innen aus dem Freifach «Entwicklungszusammenarbeit» mit?
Sie betonen, dass sie dort Verantwortung erleben. Keine fiktive Verantwortung im Schulzimmer, sondern eine echte – sie müssen mit Betroffenen kommunizieren, auf Englisch, Französisch, sie müssen vor Geldgebern auftreten. Das sind reale Situationen und das ist wertvoll in der künstlichen Schulatmosphäre. Sie müssen Projektbeschriebe schreiben und stellen fest, dass es gar nicht so einfach ist, das Projekt auf einer A4-Seite auf Deutsch oder Englisch auf den Punkt zu bringen.
Sie erleben auch hier Selbstwirksamkeit und erhalten direkte Rückmeldung. Sie merken: Wenn ich mich nicht reinknie, dann kommt das Projekt nicht zustande.
Sie haben zur Fokuswoche Klimakrise Umfragen gemacht bei Lehrpersonen und Schüler*innen. Welche Rückmeldungen haben Sie erhalten?
Von einer Minderheit wurde Überdruss geäussert, mehrheitlich gab es aber positive Stimmen. Viele sind der Meinung, dass es wichtig ist, Klimawandel und Nachhaltigkeit zu thematisieren, aber auch, dass es zu wenig thematisiert werde – einerseits im Unterricht während des Jahres, insbesondere aber im Regelunterricht während der Fokuswoche.
Was würden Sie anderen Personen oder Schulen raten, die ähnliche Engagements realisieren wollen?
(Überlegt lange). Es ist nicht einfach unsere Erfahrungen zu verallgemeinern, weil da verschiedene, schulhausspezifische Aspekte eine Rolle spielen.
Unerlässlich ist, dass man als Lehrperson sagt: Ich habe ein Anliegen, das ich an der Schule thematisieren will. Ich muss überzeugt sein davon, dass die Schule der richtige Ort für mein Engagement ist. Es bedeutet zuerst einmal Zusatzaufwand und man muss diesen wirklich leisten wollen.
Dann muss ich ins Gespräch kommen mit meinen Kolleg*innen. Das sind anfangs informelle Gespräche über die Fachgrenzen hinweg. Und besonders daran ist wiederum der Ort Schule. Dass wir feststellen, wir sollten uns an diesem Ort in angemessener Art und Weise mit dem Thema auseinandersetzen. Was dabei genau «angemessen» heisst, das gilt es immer wieder zu reflektieren.
Ich muss überzeugt sein davon, dass die Schule der richtige Ort für mein Engagement ist.
Und drittens ist die Schulleitung entscheidend. Durch ihre Unterstützung entsteht erst die Möglichkeit der Inselbildung, ich kann das nicht ohne Zustimmung der Schulleitung machen. Dafür braucht es einen fundierten Vorschlag. So kamen auch diese Projekte zustande: Wir haben viel Vorarbeit geleistet und erst als wir ein belastbares Konzept hatten, gingen wir zur Schulleitung.
Nicht zuletzt braucht es den Mut zur Reflexion, zur Veränderung und Selbstkritik. Soziale und ökologische Themen sind per se hochpolitisch. An den Schulen unterstehen wir dem politischen Neutralitätsgebot. Wir fragen nach jeder Fokuswoche im Konvent nach, ob die Woche noch gewollt ist. Die Reflexion findet also nicht im OK statt, sondern im gesamten Kollegium. Das ist wichtig für solche Initiativen, wir wollen uns nicht in einer Bubble selbst bestätigen, sondern gesamtschulisch agieren. Um gesellschaftsrelevante Kompetenzen zu fördern, um die sozialen und ökologischen Krisen zu verstehen und Wirksamkeit erfahrbar zu machen braucht es einen Minimalkonsens im Kollegium. Dazu müssen wir Lehrpersonen selbstkritisch sein und selbst lernen wollen. Dies gelingt nur im Austausch mit anderen.
Zur Person
Dr. Sebastian Bott, Lehrer für Geschichte, EWR an der KS Rämibühl MNG seit 1992 organisiert zusammen mit Kolleg*innen und Schüler*innen die Fokuswoche Klimakrise. Er ist zudem im Freifach «Entwicklungszusammenarbeit» engagiert.