Extremsport mit Sehbehinderung: «Ich versuche, mich möglichst wenig einzuschränken»
Klettern, Mountainbiken, Skifahren, Krafttraining – für Till Anderegg ist Sport alles. Der 17-jährige KZO-Schüler ist seit sieben Jahren schwer sehbehindert – und vergesse das oft selbst, wie er sagt. Schaut man ihm beim Klettern zu, bemerkt man das als Aussenstehende ebenso wenig. Ein Bericht aus der Kletterhalle.
20. Dezember 2021
«Beim Sport habe ich mich eigentlich noch nie verletzt», sagt Till Anderegg, denkt kurz nach und fügt an, «ausser beim Downhill-Biken. Da habe ich mir schon ein paar geprellte Rippen und Schürfungen geholt.» Das ist nicht nur erstaunlich, weil Till risikoreiche Sportarten wie Biken, Klettern und Bouldern (Freiklettern) sowie Skifahren betreibt, sondern umso mehr, da der 17-Jährige schwer sehbehindert ist. Seit er mit zehn Jahren an einem Hirntumor erkrankte, hat er einen sogenannten Röhrenblick, also ein stark eingeschränktes Sichtfeld. Er sehe nur punktuell scharf. «Wenn ich zum Beispiel auf dein Auge schaue, sehe ich nur das scharf und deine Nase sehe ich gar nicht», erklärt er. Zudem verändere sich sein Sehvermögen stetig. Das bemerke er aber nicht. «Ich probiere generell, mich möglichst wenig einzuschränken», sagt er. Unter einem Post auf seinem Instagram-Profil steht denn auch:
Don't let a disability limit you! Do what you enjoy!
«Ich vergesse oft, dass ich sehbehindert bin»
Kletterhalle Griffig, Uster: Hier verbringt Till fünf bis sechs Stunden pro Woche; die dreieinhalb Stunden, in denen er selbst unterrichtet, nicht mitgezählt. Seit drei Jahren ist er dem Klettern und Bouldern verfallen. Am Mittwoch startet sein Programm jeweils um 14 Uhr. Beim Verein Alpine-Experience unterrichtet er drei 11-Jährige und einen 9-Jährigen im Klettern. Während zwei Stunden heisst es volle Aufmerksamkeit; das sei «mega anstrengend». «Du musst dauernd aufpassen und trägst viel Verantwortung.» Haben die Jungs richtig gesichert? Sitzen die Klettergurte so, wie sie sollten? Welche Route eignet sich für wen?
Bei jedem Training sind unterschiedlich viele Kinder anwesend. Heute sind zwei Neulinge dabei. Till hilft ihnen beim Sichern und zeigt vor, wie man bestimmte Knoten macht. Zwischendurch wird gescherzt, gelacht und gefachsimpelt. Die Kursleiterin Margaretha, die wiederum Till über die Schulter schaut, hat heute nicht viel zu tun. «Till ist schon lange dabei und er macht es sehr gut. Er ist geduldig und zuverlässig.»
«Beim Klettern liebe ich die Challenge!»
«Ich gebe mein Wissen gerne weiter und mag den Kontakt zu den Kindern», erzählt Till – und sie mögen den Kontakt zu ihm. Gegen Ende des Kurses kommt ein kleiner Junge auf ihn zu: «Danke, dass du mir heute geholfen hast.» Einen Fistbump später huscht er wieder davon. Till erzählt freudig, der Junge habe früher Höhenangst gehabt – und er habe ihm dabei geholfen, sie zu überwinden. Die Höhe möge er lustigerweise selbst nicht besonders gerne. «Beim Vorstiegklettern kann das Fallen aus grossen Höhen ein wenig scary sein. Beim Bouldern hingegen ist das Fallen das Einfachste», sagt er grinsend. Das Klettern habe es ihm angetan, «weil ich die Challenge liebe!».
«Sport is my life»
Nach dem Kurs bei Alpine-Experience geht es für Till weiter zum Schulsport. Hier assistiert er noch einmal eineinhalb Stunden, bevor es für ihn selbst an die Kletterwand geht. Ab 17.30 Uhr trifft er sich mit Freunden und bouldert bis in den späten Abend hinein. «An Freitagabenden kann es gut vorkommen, dass wir bis elf Uhr abends klettern.» Wie bei diesem Sport üblich, helfen sich die Freunde gegenseitig, wenn es darum geht, die richtigen Griffe zu finden. Sie spornen sich an, nehmen sich hoch und fallen immer wieder rücklings auf die Matte, um sich gleich darauf mit noch mehr Elan an die Route zu wagen. Nebst dem Klettern ist das Zusammensein mindestens ebenso wichtig. «Wir bouldern viel – aber siebzig Prozent der Zeit sind wir einfach am Quatschen», erzählt Till lachend.
In Tills Instagram-Bio steht: «Sport is my life.» Denn nicht nur das Klettern hat es ihm angetan. Als 6-Jähriger fing er mit dem Biken an und seit 14 Jahren fährt er Ski. Als er als 10-Jähriger schwer krank im Spital lag, war unklar, ob und wie er diese Sportarten weiterhin würde machen können. Till war aber schon als Kind optimistisch: «Ich lag im Krankenbett und sagte meinen Eltern, dass ich mir ein neues Bike wünsche.»
Seit rund zwei Jahren ist er so richtig vom Downhill-Biken angefressen. Seine Familie sei schon immer sehr sportlich unterwegs gewesen. Als sein Vater mit dem Biken anfing, zog Till gleich mit. «Wenn jemand vor mir fährt und/oder ich die Route gut kenne, geht das trotz meiner Sehbehinderung gut», erklärt er. Wenn er zuvorderst fahre, fahre er halt langsamer als andere.
Was die Zukunft bringt
Wenn Till nicht gerade eine Kletterwand bezwingt, eine Skipiste hinunterkurvt oder mit dem Bike einen Trail hinunterbraust, besucht er die Kantonsschule Zürcher Oberland. Sei es in der Schule oder im Sport, Till sieht die Gemeinsamkeit darin, Dinge «einfach mal auszuprobieren.» In der Schule mag er nebst Sport, wo er viel im Kraftraum ist, die naturwissenschaftlichen Fächer, insbesondere Physik. «Ich weiss noch nicht, wohin es mich zieht. Ich glaube aber, dass ich ziemlich sicher studieren werde. Vielleicht Ingenieurwissenschaften oder Physik.» Heute Abend setzt er vorerst weiter die Gesetze der Physik ausser Kraft, indem er sich an der Kletterwand behände von Griff zu Griff schwingt.
Nachteilsausgleich: Chancengleichheit für Jugendliche mit Behinderung
Nachteilsausgleiche sind individuelle Massnahmen, die Jugendlichen ermöglichen, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen. An den Mittel- und Berufsfachschulen können die Massnahmen entweder im Unterricht oder auch bei den Aufnahme- und Abschlussprüfungen zum Zug kommen. Eine Befreiung von Lernzielen ist nicht möglich. Es können nur formale Massnahmen gewährt werden. Dazu gehören zum Beispiel: Verlängerung der Prüfungsdauer, individuelle Anpassung der Pausen, unterstützende Arbeitsinstrumente, wie Seh- und Hörhilfen, oder ein separater Raum mit begrenzter Platzzahl für Prüfungsteilnehmende.
Für den Unterricht an den Schulen der Sekundarstufe II kann ein Gesuch an der jeweiligen Schule eingereicht werden, sobald die Beeinträchtigung erkannt wird. Dem Gesuch muss ein aktuelles Gutachten einer Fachperson oder einer Fachstelle beiliegen. Dieses bezeichnet die Behinderung bzw. die Beeinträchtigung sowie deren Auswirkung und empfiehlt eine unterstützende Massnahme.