GRAVERIN, das Schwert der drei Tugenden – Gratia, Veritas, Integritas.
Latein kann man im Alltag nicht gebrauchen? Von wegen! Denn wenn ein Zeitreisender aus dem alten Rom im modernen Zürich ankommt, dann sind diese Sprachkenntnisse doch ziemlich nützlich. In Travis Wiggers Kurzgeschichte gerät die Welt aus den Fugen.
3. September 2021
Ein langer, blutiger Tag lag hinter ihm. Er machte die Augen zu und sah sie deutlich vor sich, die vielen rubinroten Pfützen, die überall in der Arena verteilt im Sand das Sonnenlicht spiegelten, ein letzter stummer Gruss an den Sonnengott Sol, nachdem die Schreie der Hingerichteten für immer verklungen waren, und für jeden Einzelnen die ewige Nacht Einzug gehalten hatte.
Virtus hatte, trotz seines jugendlichen Alters, schon viele Tode gesehen, viel Leid und Schmerz.
Er wusste, dass es Dinge gab, an die man sich niemals gewöhnen konnte. Jeder Tod war anders, persönlich, einzigartig. Er war sich nicht sicher, ob er selbst überhaupt noch lebte, aber es spielte keine Rolle, die Übergänge, das hatte er gelernt, waren fliessend. Wenn er es zuliess, so spürte er die Schmerzen in seinem Körper. Alte Brandwunden, die, obwohl längst verheilt, loderten wie tausend Feuer.
Auch seine Seele war gebrandmarkt, seine Gefühle waren versengt, sein Geist war verschmort worden. Sein Wille aber war für ihn eiserne Rüstung und Waffe zugleich, sein Herz die Quelle jenes Lichts, das auch die dunkelsten Wege beleuchtet.
Virtus hatte sich gerade auf die Seite gedreht und war dabei, in einen unruhigen Schlaf zu sinken, als er eine Stimme hörte, die seinen Namen rief. Zuerst dachte er, er hätte geträumt. Er richtete sich langsam auf und lauschte in die Dunkelheit. Wieder hörte er seinen Namen, aber diesmal vernahm er klar und deutlich den Ruf seiner eigenen inneren Stimme, Virtus rief sich sozusagen selbst. Er war verwirrt. Spielte ihm sein Geist einen Streich? Vielleicht hatte er ja am Kopf ein paar Schläge zu viel einstecken müssen, oder es war doch nur ein Traum? Oder beides? Was, bei Somnus, war hier eigentlich los?
Als Virtus bei Sonnenaufgang nach einer kurzen Nacht erwachte, war ihm, als hätte er die ganze Nacht hindurch gefeiert und reichlich Wein getrunken. In vino veritas. Er streckte sich, und die müden Knochen seines jungen, geschundenen Körpers meldeten sich einzeln zu einem schmerzhaften Morgengruss, den er mit lautem Stöhnen erwiderte. Virtus wusste nun, was zu tun war. Seine Gebete und sein Flehen waren erhört worden, Merkur in persona hatte sich seiner angenommen und ihm einen Ausweg, einen Fluchtweg gezeigt: carpe diem et carpe noctem!
Vor langer Zeit, als die Götter noch selbst auf der Erde gewohnt hatten, da hatte der Gott Jupiter höchstpersönlich ein Schwert geschmiedet, das allen anderen für alle Zeiten überlegen war. Es hatte eine Aura aus weisslich-blauem Licht, und es war darum so effizient, weil es die Gabe hatte, einen Kampf zu entscheiden, bevor dieser überhaupt begonnen hatte. Jupiter hatte das Schwert aus seinen eigenen göttlich-reinen Gedanken gefertigt und es mit den Tugenden der Gnade, der Wahrheit und der Reinheit veredelt. Er gab dem Schwert den Namen «Graverin» und verfügte, dass es nur einem Menschen dienen dürfe, der alle drei Tugenden in sich vereint, einem Menschen mit dem mutigen Herzen eines Löwen und der Sanftmut eines Lamms, einem Menschen, der Gegensätze in sich zu einem Ganzen verbindet, einem Menschen wie Virtus.
In der nächsten Nacht wurde Virtus zum Pontifex. Er baute in einem herrlichen Wachtraum unter der Führung von Merkur eine Traumbrücke und nutzte sie als Raumbrücke, um die tosenden Wasserfälle der Zeiten und Epochen zu überqueren, wobei ihm die Minuten, Stunden, Tage und Monate wie Wassertropfen ins Gesicht spritzten, wenn er für einen Moment unachtsam war und sich zu nahe an den Abgrund wagte.
Unter ihm zischte lockend die Gischt der Jahrhunderte und bedeckte ungeahnte Tiefen, Geschichten aus längst vergangenen Tagen und solche, die erst in ferner Zukunft erzählt werden würden.
Als Virtus aus seinem Traum erwachte, lag er auf einer weichen Matte aus sattem, grünem Gras.
Die Grashalme waren alle gleich kurz geschnitten, und es gab halbrunde und runde weisse Markierungen sowie Gebilde aus weissen Säulen mit einem Netz dahinter. Bei Minerva, das war wirklich hervorragende Sklavenarbeit, wahrscheinlich Helvetier, bekannt für ihren Perfektionismus und ihren Eigensinn.
Virtus schluckte leer. Das sah ihm alles schwer nach modernen Gladiatorenkämpfen aus! Es konnte doch einfach nicht wahr sein, dass er schon wieder in einer Arena gelandet war. Hörte das denn nie auf?
«Panem et Circenses» stand in grossen, gesprayten Buchstaben auf einem Transparent über der kleinen Holzhütte hinter der Stehplatztribüne, wo der Platzwart an den Spieltagen Wurst, Brot, Bier und Eintrittskarten zu den Spielen des FC Turicum verkaufte und sich so einen kleinen Zustopf für seine karge Haushaltskasse verdiente.
Der Fussballclub war der ganze Stolz des Arbeiterquartiers Aussersihl, wo sich viele Einwandererfamilien aus Mittel-und Süditalien niedergelassen hatten. An den Wochenenden traf man sich auf den Fussballplätzen der Stadt Zürich, um miteinander zu streiten, zu leiden oder zu lachen. Fortunato, oder Felix, wie er sich seit ein paar Jahren nannte, kannte auf seinem Platz jede und jeden, man war wie eine grosse Familie. Aber diesen Jungen, der jetzt über den Platz geschlendert kam, den hatte er noch nie gesehen. Seiner Kleidung nach gehörte er wohl zu einer Theatergruppe.
Sicher war er mit seinem Enkel Vitus (eigentlich Vito, nach Don Corleone, aber das ist eine andere Geschichte) befreundet, der am Literargymnasium Rämibühl in die Schule ging und ihm kürzlich von einem Projekt der Theater-AG erzählt hatte.
Virtus liess sich die Geschichte, die ihm Merkur in jener Nacht facettenreich erzählt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Er wollte sicher sein, dass er alles verstanden hatte, denn jedes Detail war wichtig, alles konnte letztlich über Sieg oder Niederlage seiner Mission entscheiden und den Verlauf vieler Epochen entscheidend verändern.
Da war also dieser Ägypter, der von den Römern versklavt worden war, sich aber, als ägyptischer Priester, mit Magie befasste. Er hiess Anubis und kannte sich in den Welten und zwischen den Welten bestens aus, ein rastloser Wanderer an den Grenzen des Verstandes, immer präsent, aber nie fassbar. Die Römer kontrollierten zwar seinen Körper, aber nicht seinen Geist.
Mit einer List war es ihm gelungen, Graverin zu verstecken. Das Schwert hätte ihn niemals als Meister akzeptiert, dessen war er sich vollkommen bewusst. Aber mit einem Schuss schwarzer Magie hatte er Graverin auf dem weissen und blauen Lichtstrahl seiner eigenen Schwingung mit Hilfe des Geistes eines Löwen, der gerade in der Arena umgekommen war, auf eine Zeitreise geschickt. Und so, aber das wusste damals noch niemand, ist das Kantonswappen von Zürich entstanden. Die Farben weiss und blau aus der Aura von Graverin, der Löwe mit dem Schwert und ein Löwe, welcher erst später noch dazugekommen ist, weil sich der Schwertträger so einsam gefühlt hatte.
Virtus brauchte einen Verbündeten. Er war ein Fremder an einem ihm unbekannten Ort, und da gab es das eine oder andere kleine Sprachproblem. Aber Turicum, das war schon richtig, hier musste es sein. Graverin war nahe, das konnte er spüren.
Der Gott Merkur hatte wieder mal eine andere Gestalt angenommen und als Spieler des FC Turicum gerade sein zwölftes Tor innerhalb der letzten zwei Minuten geschossen, als er Virtus davontrotten sah. Er foulte seinen Gegenspieler nochmals herzhaft und verliess dann freiwillig das Spielfeld, nachdem der Schiedsrichter ihm eigentlich die rote Karte hatte zeigen wollen, diese aber in Form eines wunderschönen Schmetterlings, gemustert wie ein Marienkäfer, einfach davongeflogen war.
Schwere Regenwolken hatten den Himmel über Zürich ganz plötzlich verfinstert. In der Ferne tobten die ersten Blitze, das nasse Inferno stand unmittelbar bevor. Virtus machte sich Gedanken über seine nächsten Schritte, als sich Merkur in seinem Kopf meldete: «Alle Wege führen nach Rom!» Da verstand Virtus, dass er Graverin nicht suchen musste, denn das Schwert würde ihn finden. Er war erleichtert, fühlte sich aber plötzlich sehr einsam und müde. Sofort reagierte Merkur mit einer weiteren Gedankenhilfe, indem er ihm den Satz «wenn du in Rom bist, dann mache es wie die Römer» übermittelte.
Virtus erkannte, dass er wohl am besten damit anfing, das Verhalten der Menschen zu studieren und zu imitieren. Da waren viele Leute mit grimmigem Blick unterwegs, die schienen traurig oder böse und stets in Eile zu sein, wahrscheinlich Sklaven. Andere hielten sich etwas ans Ohr und redeten sehr laut mit sich selbst in einer eigenartigen Sprache, manche fingen aus heiterem Himmel an, grundlos zu lachen.
Plötzlich wurde er von einem bärtigen Mann angesprochen, der um den Hals eine dicke Goldkette und an allen Fingern schwere Ringe trug. Der sagte zu Virtus so etwas wie «wasgehtdiggr», aber Virtus hatte nie richtig Griechisch gelernt, daher machte er vor dem Adligen, denn das musste er mit seinen vielen Symbolen der Macht und den muskulösen Armen voller Henna zweifellos sein, eine tiefe Verbeugung und sagte: «Virtus te salutat.» Der Bärtige zeigte Virtus seine beiden Mittelfinger, und weil Virtus ein guter Beobachter war und eine schnelle Auffassungsgabe hatte, zollte er ihm höflich seinen Respekt, indem er es ihm gleich tat und dann hastig, laut lachend, davonging.
Es war doch gar nicht so schwer, sich wie ein Einheimischer zu benehmen, und immerhin hatte er jetzt richtig grüssen gelernt.
Die weiss-blaue Schlange öffnete ihren seitlichen Schlund, und Virtus kletterte in ihren Bauch. Von aussen hatte er gesehen, dass die Schlange bereits viele Menschen verschluckt hatte, aber die schienen sich alle sehr wohl und lebendig zu fühlen. Nachdem er selbst ja sogar schon eine Zeitreise hinter sich hatte, konnte ihn nichts mehr so leicht überraschen.
Der Löwe, welcher ihm von einer grossen Tafel an der Seite der Schlange zugezwinkert hatte, gehörte zu einer Zoo-Werbung auf der Tramlinie 6, aber das konnte Virtus natürlich nicht wissen. Er wollte sich eben hinsetzen, als er einen Jungen in seinem Alter entdeckte, der ihn anstarrte. Vielleicht hatte da ja mal wieder Merkur seine Finger im Spiel, und Virtus beschloss, den Ochsen bei den Hörnern zu packen und ihn anzusprechen. «Quod nomen est tibi?», fragte Virtus mit pochendem Herzen. «Mihi nomen est Vitus, sum discipulus latinum, magistra mea est Margaretha Debrunner.» Und das waren die ersten Worte einer langen Freundschaft zwischen Virtus und Vitus, einer Freundschaft, die von Merkur persönlich geschmiedet und herbeigeführt worden war.
Die beiden hatten sich natürlich viel zu erzählen, und wenn das Vokabular nicht ausreichte, so kamen auch Hände und Füsse ins Spiel, und schnell verstand man sich, wie in jeder guten Freundschaft, auch ohne Worte.
Virtus hatte sein Nachtlager auf dem Campus der Kantonsschule Rämibühl aufgeschlagen. Er lag auf einer steinernen Bank und schaute in den trüben Nachthimmel. Die Sterne konnte er nicht sehen, aber er konnte sie spüren, er wusste, dass sie da waren, jeder an seinem Platz, wo er hingehörte, genau wie er selbst.
Er fühlte, dass er Teil von etwas Grossem war, und das erste Mal seit langer Zeit war er wirklich glücklich. Er hatte auch keine körperlichen Schmerzen mehr. Vielleicht heilte die Zeit ja Wunden? Er erinnerte sich an die Wassertropfen auf der (T)Raumbrücke, welche ihm eine willkommene Abkühlung gewesen waren, und er erkannte sie als Medizin, die seine Wunden und Schmerzen gelindert und aufgelöst hatte.
Früh am nächsten Morgen führte Vitus seinen Freund zum Rektor des Literargymnasiums. Diese Begegnung war von einem kleinen, aber erwähnenswerten Vorfall begleitet worden, der sich folgendermassen ereignet hatte: Virtus hatte sich vor dem Rektor tief verbeugt und ihm kerzengerade die Mittelfinger gezeigt, woraufhin dieser die Kaffeetasse hatte fallen lassen und wegen des Kuchenstücks in seinem Mund fast erstickt wäre. Virtus hatte ihm daraufhin heldenhaft und geistesgegenwärtig ein paar Schläge auf den Rücken versetzt, so wie er es in der Arena gelernt hatte, und ihm damit das Leben gerettet. Was für eine verkehrte Welt, Scherben bringen eben Glück!
Der Rektor, ein ruhiger, besonnener Mann, hatte seine Hände wie zu einem Gebet gefaltet und starrte an die Decke seines Büros, als erhoffte er sich durch das künstliche Licht der Lampen eine innerliche Erleuchtung. Guter Rat war teuer, aber in diesem Fall schien es, als sei er unbezahlbar.
Die Geschichte von Virtus war schwer zu glauben, aber er hatte ihm, auch mit Hilfe der Lateinlehrerin, Frau Debrunner, ordentlich auf den Zahn gefühlt. Er war sich sicher, dass alles stimmte, dennoch hatte er das Sekretariat heimlich beauftragt, abzuklären, ob der Irrenanstalt Burghölzli eines ihrer Schäfchen abhanden gekommen war, aber die waren alle sicher im Stall eingeschlossen.
Das Telefon riss den Rektor unerwartet aus seinen Gedanken, und er nahm geistesabwesend den Hörer in die Hand. Wenn er die Worte seines Gegenübers richtig verstanden hatte, war da ein Herr Deus der Firma Merkur am Apparat, der ihn auf Latein aufforderte, endlich den Lieferschein zu unterschreiben und sich nicht so dusselig anzustellen. Wann bitte hatte er denn Schokolade bestellt, und warum redete der Anrufer Latein? Und wo war dieser Lieferschein überhaupt?
Mit einem stechenden Blitz und einem ohrenbetäubenden Knall explodierte die Lampe im Büro des Rektors, draussen fing es an zu hageln und von aussen hämmerte jemand mit beiden Fäusten an die Türe. Sein Stuhl flüsterte plötzlich mit Grabesstimme und weisse A4-Blätter fingen an, sich selbst zu Kampfflugzeugen aus Papier zu falten. Der Rektor schwitzte Blut. Dieses Theater musste ein Ende haben, jetzt gleich. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Er setzte seine Unterschrift auf einen Papierflieger, der ihm wie eine tote Motte vor die Nase gefallen war.
Der Papierflieger entfaltete sich zu einem Briefbogen mit dem Briefkopf des Literargymnasiums Rämibühl, und der Rektor konnte sehen, dass er ein Schreiben unterzeichnet hatte, das dem Schwert Graverin freies Geleit unter der Obhut von Virtus gewährte.
Der Stuhl des Rektors pfiff zufrieden eine Art Siegeshymne, und der Himmel über Zürich hatte wieder die Farben des Kantons angenommen, dank einiger weniger Schäfchenwolken, welche alle irgendwie einem Löwen glichen.
Virtus hatte Vitus zum tränenreichen Abschied das heilige Versprechen abgenommen, ihn im antiken Rom, der ewigen Stadt, zu besuchen und ihm in Aussicht gestellt, ihn dafür mit dem Buchstaben «R» in seinem Namen zu belohnen, dem Buchstaben «R» für «Raumbrücke» oder auch «R» für Rom, denn schliesslich trug ja auch er, Virtus selbst, den Buchstaben «T» in seinem Namen, das «T» für «Traumbrücke» bzw. für «Turicum».
Sie waren eben beide die gleiche Seele, verbunden bis in alle Ewigkeit. Und das war gut so.