«Magic: The Gathering» – vom Kartenspiel zum Freikurs
An der Kantonsschule Zürcher Unterland (KZU) werden die Karten gezogen. Bereits zum neunten Mal unterrichtet der Religionslehrer Christoph Staub in einem Freikurs das Fantasy-Kartenspiel «Magic: The Gathering». Ein Augenschein vor Ort.
13. Oktober 2021
Freitag, 16 Uhr. Der reguläre Unterricht endet bei den meisten. Während die einen schon ins Wochenende gehen, haben einige Schüler*innen der KZU nach der Schule noch Freikurse belegt, wobei Freitag wohl die unbeliebteste Zeit für weitere Kurse sein dürfte. Als ich ins Zimmer des «Magic: The Gathering»-Freikurses (siehe Box) trete, scheint allerdings keine*r der fünf Teilnehmerinnen und neun Teilnehmer unglücklich darüber zu sein, noch zwei Lektionen hier sein zu müssen.
Während der Lehrer noch draussen ist, haben sich im Klassenzimmer bereits einzelne Gruppen versammelt. Ein paar unterhalten sich, ein paar andere haben sich über eine Karte gebeugt und diskutieren. Es gibt einige neue Gesichter, allerdings auch viele, die den Kurs schon länger belegen. Die meisten kennen das Spiel von anderen Sammelkartenspielen wie «Pokémon» oder «Yu-Gi-Oh», während andere den Kurs von Freunden und Freundinnen empfohlen bekommen haben. Hier befinden sich alle – von blutigen Anfänger*innen bis hin zu fortgeschrittenen Taktiker*innen.
Dann kommt der Magic-Kursleiter Christoph Staub herein. Er ist an der KZU zudem Religionslehrer. Er spielt das Kartenspiel selbst seit seiner Primarschulzeit in den 90er Jahren und nun unterrichtet er es im neunten Semester in Folge. Dieses Semester geht es um die Spielform «Jumpstart». Er erklärt uns, dass man erst von einer Box drei zufällige Decks à zwanzig Karten zieht und sich dann für eines entscheidet, mit dem man spielen möchte. Dasselbe bei der anderen Box. So bringt man ein gemischtes Deck mit vierzig Karten zusammen, mit dem man dann spielen muss. Kurz darauf wird auch schon losgelegt.
Und was lernt man dabei?
Nun, das habe ich sowohl Herrn Staub als auch die Teilnehmer*innen gefragt. Neben dem Spiel an sich und diversen Spielformen bietet der Freikurs noch ganz anderes als nur das. Denn es ist viel mehr als nur reines Spiel. Jedes Semester strebt der Kurs unterschiedliche Ziele an. Letztes Semester war es, wie man sich effektiv im Spiel verbessern kann. Dazu mussten die Schüler*innen nach einer Partie einen Fragebogen ausfüllen. Wo lagen ihre Schwächen, wo ihre Fehler? «Die Schüler*innen lernen voneinander», erklärt Herr Staub. Man schaut sich Taktiken oder gewisse Züge von anderen Spielenden ab und übernimmt sie dann im eigenen Spiel. Meist wird der Kurs von einem Spielwettkampf begleitet, bei dem die Teilnehmenden «Booster» (fünfzehn unbekannte Karten in einem kleinen Päckchen) und «Playmats» (Spielunterlagen, meist mit einem künstlerischen Motiv) gewinnen können.
Von Englischkenntnissen, Religion und taktischem Verständnis
Ausserdem verbessert man seine Englischkenntnisse. Es gibt zwar deutsche Karten, doch oftmals werden mit englischen Karten gespielt. Durch gewisse Schlüsselworte, wie z. B. Creature (Kreatur), Menace (Bedrohlichkeit) oder Ability (Fähigkeit) lernt man die Sprache auch schnell besser kennen. Viele wollen sich dann auch intensiver mit dem Spiel und dem Setting auseinandersetzen, weswegen sie die dazugehörigen Geschichten lesen, meist ebenfalls auf Englisch.
Einige Teilnehmende haben mir bestätigt, dass sich ihr Englisch verbessert habe, weil sie aufgrund des Kartenspiels englische Fantasy-Geschichten gelesen haben oder auf Youtube Videos davon ansehen. Oftmals sind auf den Karten gewisse Zeichen aus bestehenden Religionen adaptiert. Es gibt beispielsweise eine Edition, bei der die ägyptische Mythologie als Angelpunkt dient. Manche erkennen diese Zeichen wieder, andere lernen aufgrund des Namens der Karte und dessen Hintergrund ganz unbewusst mehr darüber. Hinzu kommt auch das taktische Verständnis. Man lernt in Phasen zu denken. Man überlegt nicht nur für einen Zug, sondern auf das ganze Spiel übergreifend und muss miteinberechnen, welche Karten die Gegenseite haben könnte. Man denkt also vorausschauend, ähnlich wie beim Schach.
Ein Freikurs für alle
Aber der Kurs ist noch viel mehr als reines Zusammenkommen und passives Lernen. Für viele Schüler*innen ist es ein Ort, an dem man sich mit Gleichgesinnten trifft. Gerade wenn man in der Klasse vielleicht keinen besonders guten Anschluss findet, ist hier der Ort, an dem man auch einfach mal abschalten kann. Ein Schüler meinte, dass auch soziale Kompetenzen gefördert werden, eben durch das Zusammenkommen und Interagieren in einer Gruppe. Auch bei den Mädchen findet das Spiel Anklang. Dieses Semester sind es fünf Teilnehmerinnen. Anfangs hat Herr Staub das gefördert, indem er Sonderpreise für die Frauen im Kurs verteilt hat. Heute ist es nicht mehr nötig, da die besten Spieler*innen im Kurs tatsächlich Frauen sind.
Keiner soll dazu gezwungen werden, Geld für das Spiel auszugeben. In diesem Freikurs ist das keineswegs nötig. Die Karten werden alle von Herrn Staub fürs Spiel zur Verfügung gestellt. Denn letzten Endes soll der Freikurs allen Spass machen. Egal welche Klasse, welches Geschlecht oder wie gut man ist.
Mit dem Beginn auch die ersten Schwierigkeiten
Der Freikurs, der heute an der KZU so gerne besucht wird, hat eine längere Geschichte hinter sich. Die Idee, einen Kurs dazu zu machen, kam nicht von Herrn Staub selbst. Er habe an einem Schultag zwei Schüler auf dem Gang «Magic» spielen sehen und sei überrascht davon gewesen, dass das Spiel noch gespielt werde. Von jenen Schülern ging dann der Wunsch aus, dass man doch einen Freikurs dazu machen könnte. Und das setzte Herr Staub anschliessend um. Der ursprüngliche Plan war es, nach drei Semestern aufzuhören.
Warum? An Karten selbst fehlt es ihm nicht, selbst besitzt er genau 48'895 Karten. Das, was allerdings fehlte und auch essenziel für ein Schulfach ist, war möglicher Unterrichtsstoff. Denn beim Kurs soll schliesslich auch etwas vermittelt werden und nicht nur vergnügliches Zusammenkommen für ein Spiel. Er fragte einige Kartenhändler*innen und beim Spielhersteller, ob es irgendwas dazu gäbe, hatte aber wenig Erfolg.
Im Rahmen des Kurses begann er sich dann selbst mehr mit taktischem Spiel auseinanderzusetzen. Mithilfe eines Freundes, der sich auf Spielmechanismen versteht und ihm oft geholfen hat, entwickelt er dann seine eigenen unterrichtstauglichen Materialien. Dieser Freikurs sei der aufwendigste zu planende Freikurs, den er je gemacht habe, eben weil es keinen Unterrichtsstoff dazu gegeben habe.
Trotz den anfänglichen Schwierigkeiten findet der «Magic: The Gathering»-Kurs immer noch statt und bereitet sowohl den Schülern und Schülerinnen als auch Herrn Staub selbst grosse Freude, dessen grösste Motivation die Motivation der Schüler*innen ist. Auch heute sind einige Teilnehmer*innen noch ein wenig länger geblieben, um ihre Partien zu beenden.
Was ist «Magic: The Gathering»?
«Magic: The Gathering» ist ein 1993 bei Wizards of the Coast erschienenes Sammelkartenspiel. Entwickelt wurde es von Richard Garfield. Anfangs ist es als ein einmaliges Kartenspiel erschienen, während heute immer neue Karten erscheinen und mit ihnen neue Fantasy & Sciencefiction-Geschichten, von denen einige online gelesen werden können. Es geht um seltsame Kreaturen, fremde Universen und die Abenteuer, die Multiversen so mit sich bringen.
Es gibt zwei Aspekte in diesem Spiel. Zum einen macht das Sammeln der zahlreichen Karten einen grossen Reiz des Spiels aus. Die wertvollste Karte hat einen Wert von rund 138'000 Euro und nennt sich «Black Lotus».
Zum anderen ist da natürlich das Spiel an sich! Gespielt werden kann das Kartenspiel zu zweit oder zu mehreren. Je mehr Spielende, desto länger die Partie. Variieren kann die Spielzeit von sechzig Sekunden bis hin zu mehreren Stunden.
Jeanne Koch hat an unserem Kreativitätswettbewerb «Zwischenstunde» teilgenommen, ihr Beitrag wurde von der Jury prämiert. Als Preis hat sie ein Praktikum bei «Die Zürcher Mittelschulen» gewählt und im Zuge dessen diesen Beitrag erstellt.