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«Im Schnitt sind in jeder Klasse zwei Personen queer»

Annette Labusch macht sich seit Jahren dafür stark, dass an Schulen über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt gesprochen wird. Warum das wichtig ist, erklärt sie im Interview.

10. September 2024

Annette Labusch, Sie befassen sich schon lange mit den Themen sexuelle Orientierung, sexuelle Identität und Gender. Wie kam es dazu?

Auslöser war meine private Beziehung zu den Themen: Mein Sohn hat sich mit 14 Jahren als schwul geoutet. Er hatte ein entspanntes, gutes Outing und ging immer sehr offen mit seiner Homosexualität um. Er nahm mich dann an ein Treffen der HAZ (Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich, Anm. d. Red.) mit und dort erfuhr ich vom Verein ABQ. Dessen Konzept war – und ist bis heute – dass queere Personen und ihre Angehörigen auf Schulbesuch gehen und über das Thema aufklären. Das Konzept überzeugte mich und ich begann, mich im Verein zu engagieren. Das tat ich während rund sieben Jahren, vor ca. zwei Jahren beendete ich mein Engagement aus Zeitgründen.

Sie haben Ihr privates Interesse für das Thema mit Ihrer Erfahrung als Lehrperson verbunden?

Sozusagen, ja, wobei das private Interesse im Vordergrund stand. Bei ABQ gehen immer drei Personen auf Schulbesuch – zwei queere Personen und ein Elternteil einer queeren Person. Anfangs war das noch sehr eng gefasst, queer wurde gleichgesetzt mit schwul, lesbisch oder bi. Das hat sich geöffnet, mittlerweile fallen unter den Begriff «queer» auch Transpersonen und non-binäre Menschen.

Überzeugt hat mich vor allem der direkte Kontakt zu den Jugendlichen. Wir besuchten hauptsächlich Schulklassen der 2. und 3. Sekundarschule, manchmal auch 6. Primarschulklassen und Mittelschulen auf allen Stufen. Wir zeigten insbesondere auf, dass die vier Parameter «sexuelle Orientierung», «Geschlechtsidentität», «äusseres Erscheinungsbild» und «Geschlechtsmerkmale» vier voneinander komplett getrennte Bereiche sind. Da gab und gibt es noch viele falsche Vorstellungen in den Köpfen. Wir klärten auf, teils stifteten wir aber auch Verwirrung (lacht).

Das Thema bringt es mit sich, dass wir teils auch heftige Geschichten erzählten, die die Jugendlichen erstaunten und ihnen zu schaffen machten.

Das Ziel der Schulbesuche ist es also, Vorurteile abzubauen?

Ja, wir wollten die Bilder in den Köpfen aufbrechen. Das Thema bringt es mit sich, dass wir teils auch heftige Geschichten erzählten, die die Jugendlichen erstaunten und ihnen zu schaffen machten.

Einige Schüler*innen haben sich anfangs fürchterlich gesträubt, wollten nichts dazu hören. Doch in dem Teil, in dem wir drei von unseren persönlichen Erlebnissen erzählten, sassen die Jugendlichen immer mucksmäuschenstill und mit grossen Augen da, da gab es nie eine Störung. Häufig fiel am Schluss der Satz: «Ihr seid ja gar nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe.»

Sind Sie denn auch an der Kantonsschule Wiedikon, wo Sie unterrichten, eine Expertin für das Thema?

Ich bin, wenn man so will, eine inoffizielle Botschafterin für die Themen LGBTQ, sexuelle Orientierung und sexuelle Identität. Ich werde manchmal angefragt im Zusammenhang mit Maturitätsarbeiten, die sich damit befassen und ich mache mich stark dafür, dass die Themen im Schulbetrieb mehr aufgenommen werden.

Ich bin, wenn man so will, eine inoffizielle Botschafterin für die Themen LGBTQ, sexuelle Orientierung und sexuelle Identität.

Aktuell ist das nicht der Fall, da würde ich mir noch mehr wünschen. Ich muss aber dazu sagen: Die Schüler*innen an der KWI sind wahnsinnig offen und divers und auch die Schule pflegt und lebt diese Werte. Ich denke aber schon, dass wir alle, insbesondere auch die Lehrpersonen noch besser informiert sein könnten.

Als Leiterin der Theater-AG begegne ich dem Thema «in verschiedene Rollen schlüpfen» in doppelter Hinsicht: Einerseits sind in der Gruppe einige queere Personen, die verschiedene Rollen ausprobieren, andererseits ist es natürlich Teil des Schauspiels, in Rollen zu schlüpfen – als Mann in Frauenrollen, als Frau in Männerrollen und so weiter.

Und ich gebe zu, auch ich kann mir nur schwer vorstellen, wie es sich anfühlt, non-binär zu sein. Aber ich muss es ja nicht selber fühlen, lediglich akzeptieren.

Welche Fragen zu Gender, sexueller Identität und sexueller Orientierung beschäftigen denn Jugendliche heute?

Bei den Schulbesuchen mit ABQ gab es meist Fragen nach dem Outing meines Sohnes: Wie war es für mich als Mutter, wie hat es das Umfeld aufgenommen? Auch Fragen religiöser Art tauchten oft auf: Wie kann ich mit meinem Vater umgehen, für den Homosexualität eine Sünde ist? Manchmal war es für die Jugendlichen schwierig, sich ins Thema einzudenken. Und ich gebe zu, auch ich kann mir nur schwer vorstellen, wie es sich anfühlt, non-binär zu sein. Aber ich muss es ja nicht selber fühlen, lediglich akzeptieren.

Sie haben erwähnt, dass es noch viele Vorurteile gibt. Wie sieht es mit Diskriminierung, Gewalt und Mobbing aus – treten diese an den Schulen auf?

An der KWI begegne ich dem nicht. Aber mit ABQ bin ich damit immer wieder in Berührung gekommen, wir wurden teils auch angefragt, weil es Fälle von Mobbing und Diskriminierung gab.

Die Bandbreite reicht von unbedarften Vorurteilen aufgrund von Nichtwissen bis hin zu verbaler und körperlicher Gewalt. Wir erlebten Klassen, da war Vielfalt gar kein problembehaftetes Thema, aber auch solche, wo wir spürten, da gibt es Personen, die sich outen möchten, sich aber nicht getrauen. Das waren mitunter schwierige Situationen.

Die Bandbreite reicht von unbedarften Vorurteilen aufgrund von Nichtwissen bis hin zu verbaler und körperlicher Gewalt.

Mir ist aufgefallen, dass es auch altersabhängig ist: Die jüngeren Schüler*innen sind sich ihrer Identität, auch der sexuellen, noch unsicherer, die älteren sind gefestigter. An den Sekundarschulen und in den unteren Klassen des Langgymnasiums hat das Thema Vielfalt grösseres «Gefahrenpotenzial».

Gehen wir weg von LGBTQ, hin zum Thema Gender. Wie sieht es damit aus an den Schulen?

Da kann ich vor allem für die KWI sprechen: Das ist ein Thema. Das «Lehrerzimmer» wurde irgendwann zum «Aufenthaltsraum für Lehrpersonen», aber weil das zu lang ist, sagen doch immer alle Lehrerzimmer. Ich bin natürlich die penetrante Person, die das immer korrigiert (lacht).

Eine Kollegin hat sich sehr für gendergerechte Sprache in den Dokumenten eingesetzt. Da ist unsere Schule wach und dran, auch in den Konventen. Aber natürlich sind nicht alle gleicher Meinung.

Von anderen Schulen weiss ich es nicht mit Sicherheit, aber ich kriege am Rande mit, dass es ein Thema ist. Bei unseren Umbauten und Expansionen werden Beschriftungen gendergerecht gemacht, bei den Maturitätsarbeiten werden sehr viele Mädchen ausgezeichnet. Später in den Berufen kippt es wieder. Da kann Schule viel leisten, aber es scheitert in der Gesellschaft.

Sie haben erwähnt, dass Sie mehr institutionalisierte Angebote an den Schulen begrüssen würden. Warum sollte denn an den Schulen über Gender und LGBTQ gesprochen werden?

Es muss solange ein Thema sein, bis es keines mehr ist! Wir dürfen nicht so tun, als ob das kein Problem ist. Wir müssen darüber sprechen. Der Wunsch ist natürlich da, dass es kein Thema ist, aber es ist im Moment noch eins. Es fehlt noch viel Wissen, das weiss ich ja von mir selber! Mit meinem Sohn und meiner Arbeit bei ABQ haben sich für mich neue Welten aufgetan. Das Thema ist allgegenwärtig, aber man weiss erstaunlich wenig darüber.

Es muss solange ein Thema sein, bis es keines mehr ist!

Darüber zu sprechen ist eine Chance, denn es betrifft mindestens zwei Personen pro Klasse direkt! Das reicht schon als Begründung, wieso wir darüber sprechen sollten. Für diese zwei Personen wäre die Aufklärung aller enorm wichtig.

Man muss aber vielleicht ergänzen, dass es für viele Themen zu wenig Platz an den Schulen gibt, einfach weil die Zeit knapp ist. Es ist keine Ablehnung gegenüber dem Thema, sondern Zeitmangel und der Druck, alles unterzubringen. 

Man könnte nun argumentieren, dass das Thema privat ist und nicht an den Schulen thematisiert werden muss.

Bei solchen Aussagen weiss ich jeweils nicht, wo ich anfangen soll, mich aufzuregen (lacht). Das geht von der Vorstellung aus, dass Schule ein Ort ist, an dem wir in jedem Zimmer zwanzig Gefässe haben, die wir mit etwas füllen.

Darüber zu sprechen ist eine Chance, denn es betrifft mindestens zwei Personen pro Klasse direkt!

Dagegen wehre ich mich. Schule ist ein Ort des Lebens, der Menschen, des Zusammenlebens. Natürlich ist die sexuelle Orientierung, die sexuelle Identität privat, aber die Schule ist ein Ort, an dem Jugendliche einen grossen Teil ihrer Zeit verbringen. Da kann man nicht sagen, alles Private bleibt draussen. Das eine kann man vom anderen nicht entkoppeln. Damit machen wir Schüler*innen klein und kaputt, zu Nummern.

Aber Beispiele wie der abgesagte Diversity-Tag in Stäfa zeigen, dass solche Stimmen immer noch Macht haben. Und ich frage mich: Wovor haben sie Angst?

Zur Person

Annette Labusch studierte Gesang in Zürich und begann schon während des Studiums eine rege Konzerttätigkeit. Mittlerweile hat sie in unzähligen Bühnenproduktionen mitgewirkt. An der Kantonsschule Wiedikon unterrichtet sie Sologesang und leitet die Theater-AG.

Als Mutter eines homosexuellen Sohnes engagierte sie sich während mehrerer Jahre beim Verein ABQ, der Wissen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ins Schulzimmer bringt.