Ganz normal, nur anders
«Der einzig wahre Realist ist der Visionär», hat der grosse italienische Regisseur Federico Fellini einmal gesagt. Wenn wir’s nicht besser wüssten, würden wir vermuten, er hätte dabei ans Liceo Artistico gedacht. Eine Schule, fest im Hier und Jetzt verwurzelt, aber offen für alle Arten von Visionen.
17. Dezember 2021
Die Villa «Dem Schönen» am Parkring in Zürich Enge ist ein Bijou, in dem man am liebsten wohnen möchte. 1898 erbaut und 1902–04 um zwei grosse Museumsräume erweitert, diente sie bis 1921 als herrschaftlicher Familiensitz, wurde später als Möbelgeschäft «für hohe Wohnkultur» genutzt und kam 1963 in den Besitz der Stadt Zürich. Diese wollte auf dem Grundstück das Staatsarchiv errichten wollte, ein Plan, der glücklicherweise im Sand verlief. So wurde die Villa erst als Erweiterung der benachbarten Kantonsschule hergerichtet und dann, Anfang der achtziger Jahre, prächtig renoviert.
1986 beschloss der Erziehungsrat, in Zusammenarbeit mit dem italienischen Staat, ein Liceo Artistico zu schaffen. Die Villa «Dem Schönen» bot sich dafür als würdige Unterkunft an. Am 21. August 1989 wurde die neue Schule feierlich eröffnet, und seither ist das Gebäude von Ideen, Gedanken und Geistesblitzen erfüllt, an denen der Bauherr von damals seine helle Freude gehabt hätte. Denn auch er, ein Arzt aus Chemnitz, war ein inspirierter Mensch. 1890 brachte er seinen ersten Markenartikel in den Verkauf – das aus Rinderblut stabilisierte Haematogen, das als Mittel gegen Blutarmut, Bleichsucht, Magengeschwüre, Malaria, Zuckerkrankheit, Rachitis und vieles mehr zu einem durchschlagenden Erfolg wurde.
Kunst und Kultur auf Italienisch
Er hat ein würdiges Erbe hinterlassen, der gute Dr. Hommel. Ein herrschaftliches Anwesen mit Villa und Park – die perfekte Kulisse für einen Film, der sich immer weiterdreht. Das Drehbuch ist ein Gemeinschaftswerk der gut 50 Lehrpersonen und rund 220 Schülerinnen und Schüler, die hier fünf wichtige Jahre ihres Lebens verbringen. Sie alle tragen mit ihrem Esprit dazu bei, dass am Liceo niemals Langeweile aufkommt und die Spannung immer erhalten bleibt.
Das Liceo Artistico ist klein, überschaubar, familiär. Hier treffen zwei Sprachen, zwei Kulturen, zwei Mentalitäten aufeinander, manchmal harmonisch, manchmal heftig, aber immer bereichernd. Alles ausser gewöhnlich, könnte man meinen und vergisst nur allzu gern, dass das Liceo ein öffentliches Zürcher Gymnasium ist und einen wichtigen Platz in der kantonalen Bildungslandschaft einnimmt. Als Kunstgymnasium bietet es Freigeistern, Kreativen und angehenden Künstler*innen eine Heimat, und als Immersionsgymnasium kennt es als einzige Schule im Kanton Zürich eine zweisprachige Matur mit Italienisch.
Eine Idee geht auf Reisen
Kunst und Italien sind zwei enge Verbündete. Wer mit Deutsch im Gepäck im Liceo ankommt, verlässt es nicht nur mit einer neuen Sprache, sondern auch mit einem anderen Weltbild. Das Kernstück dieser Wandlung sind die neun Kunststunden pro Woche, die den Jugendlichen ganz neue Welten eröffnen. Auf dem Stundenplan stehen die verschiedensten Facetten des Bildnerischen Gestaltens – vom Malen und Zeichnen über das dreidimensionale Gestalten mit Ton, Gips und Holz bis zu eher technischen Bereichen wie Perspektive, Architektur oder Design. Hinzu kommen Freifachkurse zu Fotografie, Aktzeichnen und Informatikanwendungen wie Photoshop und Ähnliches – das volle Programm eben.
Ein Highlight der Schulzeit und ein Kernaspekt der gelebten Italianità sind die alljährlichen zwei Studienwochen, die in Italien stattfinden. In den ersten, dritten und fünften Klassen liegt ihr Schwerpunkt auf der Kunst, in der zweiten Klasse auf der Sprache. Das Eintauchen in die italienische Kultur und Lebensweise ist für alle Schüler*innen ein prägendes Erlebnis. Es sind nicht allein die Erfahrungen und Erkenntnisse, die jeder und jede mit nach Hause nimmt, sondern auch die gemeinsamen Erinnerungen, die den Zusammenhalt festigen und sehr viel zur freundschaftlichen Stimmung am Liceo beitragen.
Drei Frauen, drei Persönlichkeiten
Leona besucht die zweite Klasse, Alina die vierte und Palma die fünfte. Sie haben die Gymiprüfung in den üblichen Fächern Deutsch, Mathematik und Französisch abgelegt, eine Kunstmappe eingereicht, zusätzlich eine Aufnahmeprüfung in Kunst gemacht, und jetzt sind sie da. Fünf Jahre dauert die Ausbildung am Liceo – ein Jahr mehr, als ein Kurzgymnasium normalerweise dauert. Ein gut investiertes Jahr, sagen sie, denn Kunst braucht Zeit. Und selbst wenn Alina und Palma nicht unbedingt bei der Kunst bleiben werden, empfinden sie die Zeit am Liceo als ungemein bereichernd und wichtig für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Leona hingegen, die Jüngste, will dranbleiben und die Kunst zu ihrem Lebensinhalt machen.
Diese zufällige Konstellation ist durchaus repräsentativ fürs Liceo. Etwa die Hälfte der Abgänger*innen arbeiten oder studieren später im Bereich Kunst und Design, andere schwärmen aus und werden alles Mögliche: Herzchirurginnen, Teilchenphysiker, Mathematikerinnen, Biologen, Lehrerinnen und vieles mehr. Alle finden einen Weg, der so individuell ist wie sie selbst.
Das Liceo im O-Ton
Aber wie war das nochmal mit Leona, Alina und Palma? Was denken sie über das Liceo? Wie fühlen sie sich hier? Ein spielerisches Pingpong, bei dem die Statements hin- und herfliegen:
Ich wollte ans Liceo, weil ...
.. es für mich eine optimale Kombination von Gymnasium und einer soliden gestalterischen Grundausbildung darstellt. (Leona)
.. mich die vielen Kunstlektionen im Liceo angesprochen haben. Ich sah einen Vorteil darin, einen Ausgleich zum kopflastigen Unterricht zu haben. (Alina)
.. das Neue und Unbekannte gleichzeitig so einladend wirkte. (Palma)
Am Liceo gefällt mir besonders, dass ...
.. es sehr familiär ist und man sich auf respektvolle Art und Weise begegnet. (Leona)
.. alles so familiär und klein ist. Dank der vielen Kunstlektionen finden wir trotz Schulstress immer wieder Zeit, um abschalten zu können und uns auf etwas ganz anderes zu konzentrieren. (Alina)
.. wir alle etwas gemeinsam haben, das uns verbindet. (Palma)
Die Italianità erlebe ich als ...
.. extravagant, unik und ausdrucksstark in der Mimik und Gestik. (Leona)
.. künstlerisch inspirierend (Alina)
.. eine Art des Zusammenlebens, direi;) (Palma)
Nach der Matur werde ich ...
.. im Ausland Visual Development Art studieren. (Leona)
.. mich mit dem Abschied vom Liceo schwertun, weil ich hier viele meiner engsten Freunde gefunden habe. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass ich irgendwann nicht mehr jeden Tag mit meiner Klasse verbringen werde. Ich werde wohl ein Zwischenjahr einlegen und für ein paar Monate verreisen. Ich hoffe, dass mich die Kunst auch nach der Matura noch begleiten wird. (Alina)
.. viele schöne Erinnerungen aus der Liceo-Zeit mitnehmen. (Palma)
Kunst ist für mich ...
.. ein Zusammenspiel aus Kommunikation, Leidenschaft und manuellen Fähigkeiten. (Leona)
.. der Ausdruck von Kreativität und eine Widerspiegelung von Emotionen. Kunst ist für mich auch, eine Idee zu entwickeln und diese dann auf verschiedensten Weisen umsetzen zu können. (Alina)
.. eine kreative Entdeckungsreise, die es selbst zu gestalten gilt. (Palma)
Mein Traum ist es, ...
.. in der Animationsfilm-Industrie Fuss zu fassen. (Leona)
.. verschiedenste Länder zu bereisen und deren Kulturen kennenzulernen. Wichtig ist mir auch Unabhängigkeit – nicht nur beruflich, sondern auch in anderen Bereichen des Lebens. (Alina)
.. dass am Liceo auch weiterhin so viel gelacht wird wie heute. (Palma)
Benvenuti al Liceo
Das Liceo Artistico ist ein öffentliches Zürcher Gymnasium und gleichzeitig das einzige schweizerisch-italienische Kunstgymnasium. Die Matur des Liceo ist die einzige zweisprachige Matur mit Italienisch im Kanton Zürich. Das ist ein Bekenntnis zum Partnerland Italien, aber auch eines zur Förderung der Landessprache Italienisch.
Das Liceo dauert ein Jahr länger als die andern Kurzgymnasien. Wie jede Schweizer Matur berechtigt die des Liceo Artistico zum Studium an allen Fakultäten. Zugleich zählt sie als italienische Matur, die den Zugang zu den italienischen Kunstakademien erlaubt.
Das Schwerpunktfach am Liceo ist Bildnerisches Gestalten. Es gibt kein anderes, aber von diesem sehr viel: neun Stunden pro Woche. Vieles in den Kunstfächern passiert mittlerweile mit Informationstechnologien, die sowohl in speziellen Kursen als auch integriert in den Fachunterricht vermittelt werden.