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Anti-wer? Anti-gone!

Die diesjährige Schultheaterproduktion des Jungen Theater KEN hat es in sich: In einem Hörspiel reflektieren die Schüler*innen die griechische Tragödie «Antigone», das Leben – und nicht zuletzt sich selbst. Am 17. Juni fand auf dem Friedhof Sihlfeld die Premiere statt. Halten Sie sich gut fest und die Taschentücher bereit.

29. Juni 2021

Antigone: «Hey, Isi. Wach uf!»
Ismene: «Was gaht, Anti? Chill mal dini Base.»
Antigone: «Ich han e geili Action plant! Mer gönd ez de Polyneikes go begrabe.»
Ismene: «Was? Nei, du gisch mer jetzt ganz scheisse Vibes. Und übrigens, es isch zmitzt ide Nacht.»

Antigone im Gespräch mit ihrer Schwester Ismene

Die griechische Tragödie «Antigone» von Sophokles (siehe Box) ist im 21. Jahrhundert angekommen. Das Junge Theater KEN hat ihr mit selbst geschriebenen Texten und Improvisationen auf Schweizerdeutsch neues Leben eingehaucht. Im Hörspiel nehmen die Schüler*innen der Kantonsschule Enge ihre Zuhörer*innen mit auf eine lehrreiche und emotionale Achterbahnfahrt. Vorletzte Woche fand auf dem Friedhof Sihlfeld die Premiere statt.

Ödipus, der sexy Hengst

Das Alte Krematorium ragt imposant in den blauen Abendhimmel. Vor deren Kulisse haben sich auf den steinernen Treppen an diesem Abend rund siebzig Schüler*innen, Lehrer*innen, Eltern und Theater-Interessierte niedergelassen und lauschen dem Hörspiel «Anti-gone». Dieses wurde zum ersten Mal «vorgeführt». Mit bereitgestellten Headsets konnte sich das Publikum das Stück nach einem beliebigen Startzeitpunkt anhören. Jede und jeder im eigenen Tempo und so lange, wie sie oder er wollte. Oder aber man hörte sich das Werk via www.mlevystrasser.com/anti-gone auf dem eigenen Device an und kann das nach wie vor tun.

Wer war diese Antigone? Feministin, Widerstandskämpferin, die Mutter Theresa der Antike? Mit wechselnden Rollen erzählen und reflektieren die Schüler*innen ihre Geschichte, ebenso wie die Vorgeschichte, wie Kreon zum König wurde. Da treffen wir auf Ödipus, den sexy Hengst, der mit seinem Auto zum Orakel von Delphi cruist. Dieses wird sogleich auf Tripadvisor bewertet und für den Eintritt muss man via Twint zahlen. Wenn das nicht «whack» ist. Mit viel Witz und ihrer ganz eigenen Jugendsprache sorgen die Jugendlichen immer wieder für unerwartete Momente und Lacher.

«Jetzt!»

Nebst der humoristisch gelungenen Ebene fehlt es aber auch nicht an tiefschürfenden philosophischen Fragen. In den Worten der Theatergruppe geht es im Stück um Folgendes: «Es geht um Liebe, Tod, Stärke, Macht, Ehre, Familie – und es geht um dich.» Sie fragen sich und zugleich die Zuhörer*innen: «Wofür lohnt es sich zu leben? Und wofür zu sterben? Was passiert, wenn ich gleich jetzt sterbe? Was bleibt übrig? Bin ich ersetzbar? Werde ich ein Bildnis hinterlassen? Gibt es Menschen, die wirklich selbstlos handeln?»

Einer Zuhörerin, die vor dem Krematorium sitzt, kullern die Tränen herunter. Sie hat den Kopf in die Hände gestützt. Was sie wohl gerade hört? Ein älterer Herr schaut lächelnd in den Abendhimmel, an dem eine dünne Mondsichel steht. Zwei Lehrer*innen der Kantonsschule Enge haben das Stück gerade zu Ende gehört. Ihr Fazit? «Jetzt, jetzt, jetzt!» Wer das verstehen will, hört sich das Hörspiel am besten selbst an. Die Lehrerinnen fügen an: «Es ist eindrücklich, wie die Jugendlichen ihr Inneres nach aussen kehren und wie tiefgründig sie sind.» So viel sei verraten: Am Schluss lesen die Schüler*innen ihre selbst verfassten Testamente vor. Selbst vermeintlich Hartgesottene sollten die Taschentücher bereithalten.

Elan, Offenheit und viel Vertrauen

Geplant hatte das Junge Theater KEN ursprünglich eine Theateraufführung vor Publikum im März 2021. Wie so viele Events konnte aber auch dieser aufgrund von Corona nicht stattfinden. Die Schüler*innen rund um die Theaterpädagogin Fiona Schreier und den Mittelschullehrer und Schauspieler Daniel Hajdu (Gesamtleitung) haben sich davon nicht beirren lassen.

Seit November letzten Jahres probten die zehn Schüler*innen zusammen. Die Jugendlichen zwischen sechzehn und zwanzig Jahren zeigten sich erfinderisch, als es darum ging, einen Plan B zu finden. «Natürlich ist es sehr schade, dass keine Aufführung stattfinden konnte, aber man muss flexibel sein», sagt Fiona Schreier, die die Jugendlichen bei der Erarbeitung des Stückes angeleitet hat. Sie und Daniel Hajdu sind sich einig: «Es ist einfach Wahnsinn, mit wie viel Elan und Offenheit sich die Schülerinnen und Schüler in das Projekt gestürzt und wie sie uns vertraut haben.» Wichtig sei, dass trotz den wechselnden Rahmenbedingungen «etwas entstanden sei», das man vorführen könne, sagt die 32-jährige Schreier. «Ebenso wichtig war für die Jugendlichen, dass wir uns einmal pro Woche während drei Stunden in Person zum Proben getroffen haben – Corona hin oder her», fügt der 56-jährige Hajdu an.

Antike trifft auf Gegenwart – auch musikalisch

Untermalt wird das Stück von Kompositionen des selbstständigen Musikers Roman Glaser. «Es ist eine Mischung aus orchestralen Elementen und elektronischen, zeitgemässen Klängen. An die Antike erinnernde Saiteninstrumente und Gongs treffen auf groovy Rhythmen», erläutert er. Das Hörspiel des Jungen Theater KEN zeigt eindrücklich auf: Griechische Mythologie muss nicht staubtrocken sein, ebenso wenig wie tiefschürfende philosophische Fragen nur ernst sein müssen.

«Antigone» – darum geht’s

Antigone begräbt ihren Bruder Polyneikes, obwohl der herrschende König von Theben, Kreon, ein Gesetz erlassen hat, das dies verbietet. Sie wird dafür zum Tode verurteilt. Staatsräson gegen Familienliebe. Ganz einfach. Heute würde so was ja sicher nicht mehr passieren. Oder? 

Wer war diese Antigone überhaupt? Eine Rebellin? Eine Widerstandskämpferin? Eine verwöhnte Tochter aus gutem Hause? Wer hatte Recht? Kreon oder Antigone? Ist das überhaupt noch wichtig, nach all den Jahren? Wofür würde Antigone denn heute kämpfen? Ist das Schicksal noch immer unerbittlich, oder kann ich es selbst in die Hand nehmen? Was ist der Preis für Widerstand? 

Sollen wir diese Geschichte denn überhaupt noch erzählen? Und: Was hat das alles mit mir zu tun? Die Schüler*innen Alba, Anna, Ella, Gina, Jonathan, Marta, Noah, Sakura, Salome & Tenzin widmen sich mit schonungsloser Ehrlichkeit diesen Fragen und untersuchen die Geschichte von Antigone von damals aus einer heutigen, aus ihrer eigenen Perspektive.