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Ein Hansdampf, der keiner sein will

Musiker, Pointenautor, Filmliebhaber und nicht zuletzt seit bald elf Jahren Deutschlehrer am Liceo Artistico. Das ist Dominic Bretscher – und noch vieles mehr. Das neuste Projekt des 38-Jährigen ist die digitale Lernplattform filmanalyse.ch, die er zusammen mit dem Englischlehrer Manuel Vogelsang lanciert hat.

13. September 2022

Da kommt er angeradelt – zwanzig Minuten zu spät. «Das ist sonst gar nicht meine Art», versichert er und richtet sein farbiges Hemd, auf dem ein Bild von Peter Paul Rubens prangt. Am Ende unseres Gesprächs wird sich herausstellen, dass das wohl stimmt. Wer gleichzeitig so viele verschiedene Projekte jongliert wie Dominic Bretscher, würde ohne Organisationstalent nämlich gar nicht alles unter einen Hut bringen. «Nenn mich aber bloss keinen ‹Hansdampf in allen Gassen›», mahnt er lachend. «Das wirkt unsympathisch. Ich mache auch ganz oft einfach nichts.» Wie er das wohl hinkriegt ...

Themen mit «wahnsinnig grosser Anziehungskraft»

Seit bald elf Jahren unterrichtet Dominic Bretscher unter anderem Deutsch am Liceo Artistico. «Ich komme aus einer ‹Büezer-Familie›; meine Eltern konnten im Beruf nicht unbedingt ihren Interessen nachgehen. Es ist ein grosses Privileg, mich den ganzen Tag mit Dingen zu beschäftigen, die für mich wahnsinnig grosse Anziehungskraft haben. Das ist nicht selbstverständlich», sagt er nachdrücklich, aber mit sanfter Stimme. Damit meint er nicht nur Deutsch als Unterrichtsfach. Seine Interessen sind nämlich so breit wie seine Augen blau und seine Stirnfransen lockig sind.

Am Gymnasium Freudenberg unterrichtet er das Wahlpflichtfach «Musikproduktion am Computer» und am Liceo zusammen mit einem Kollegen das «Fach für Besonderes», in dem Sound-Installationen entstehen. Einmal im Jahr organisiert er einen Poetry Slam sowie ein Theaterstück zusammen mit Hugo Ramnek.

«Das Liceo macht es möglich, dass ich all meinen Interessen und Leidenschaften nachgehen kann. Es ist für mich die beste Schule. Noch nie musste ich Kolleg*innen oder Schüler*innen erklären oder mich gar rechtfertigen, wieso es sinnvoll ist, sich mit Literatur oder Kunst auseinanderzusetzen», sagt Bretscher.

Klar, manchmal nerve er sich über die Schüler*innen, aber alle hätten sie das Herz am rechten Fleck – besonders an «seiner» Schule. Zudem sei Unterricht mit Erwachsenen nicht weniger anstrengend als mit jungen Erwachsenen: «Auch da haben alle ihre Rollen. Eine kommt immer zu spät, einer redet dauernd, wieder eine andere schaut immer aufs Handy.» Sein Wunsch Lehrer zu werden, gründe vielmehr darin, sich mit seinen Lieblingsthemen zu beschäftigen und andere mit seiner Begeisterung anstecken zu können. Im Deutschunterricht befasst er sich gerne mit Literaturtheorie, Linguistik oder macht einen Exkurs in die Philosophie oder Psychologie. «Die Literatur ist ein Wissensspeicher. Eine Art Selbstbedienungsladen, den ich ausbeuten kann.»

Filmanalyse für alle Lehrpersonen

Seit rund sechs Jahren unterrichtet Bretscher zusammen mit seinem Kollegen Manuel Vogelsang auch das Freifach «Filmanalyse». Alle zwei Wochen ergründen sie mit den Schüler*innen während zwei Lektionen, wie man einen Film wirklich schaut. Kameraführung, Filmschnitt, Einstellungsgrössen, Tonspur, Farbe, Licht. Taucht man erst einmal in die Materie ein, sind die Themen unerschöpflich.

«Der Aufwand, den wir in das Freifach investieren, ist teils absurd hoch», erzählt Bretscher lachend. Über die Jahre entstand ein grosser Fundus an Unterrichtsmaterialien. Diesen Sommer haben Bretscher und Vogelsang filmanalyse.ch lanciert, um das gesammelte Wissen für alle zugänglich zu machen. Es ist die erste digitale Lernplattform schweizweit, mithilfe derer Lehrpersonen und Schüler*innen lernen, Filme und Serien zu analysieren. Das Projekt wurde vom Innovationsfond des Digital Learning Hub Sek II Zürich (DLH) gefördert. (Mehr über den DLH, der den digitalen Wandel an Schulen vorantreibt, erfahren Sie in unserem Bericht.)

Auf der Filmanalyse-Plattform finden sich unter anderem viele Anwendungsbeispiele, in denen Bretscher und Vogelsang einzelne Filmszenen in Bezug auf unterschiedliche Kriterien analysieren. «Film hat es verdient, dass man ihn als eigenständigen Gegenstand behandelt», ist Bretscher überzeugt. Die Website soll Lehrer*innen aller Fächer genau hierbei unterstützen.

Musiker, Pointenschreiber und Comedian

Bretscher wäre nicht Bretscher, wenn die Liste seiner Engagements nicht noch weitergehen würde: Er ist Pointenautor für den Kabarettisten Michael Elsener, Keyboard-Spieler in der Winterthurer Indie-Pop-Band Plankton, Komponist beim Disco-Duo Wunderkind, Pianist bei der Philly-Soulband Zurphonics und erzählt als Stand-up-Comedian unter anderem aus seinem Leben als Bald-Vierziger. Möglicherweise ginge die Liste noch weiter und er verschweigt es, um nicht «unsympathisch» zu wirken.

Die Frage, die sich aufdrängt: Wie kann Bretscher auf so vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzen, ohne dass es ihm zu viel wird? «Manchmal hört mein Kopf abends nicht auf zu drehen. Gerade am Liceo ist die Identifikation mit der eigenen Arbeit sehr hoch. Alle brennen für ihre Sache. Das ist schön, kann aber ebenso anstrengend sein. Wird es mir mal zu viel, schaue ich alte Harald-Schmidt-Folgen, mache Musik oder gehe joggen.» 

Wenn er trotz seiner Vielseitigkeit kein Hansdampf sein will, dann eben ein Tausendsassa. Ob er wirklich dazukommt, einfach mal nichts zu tun, kann nur er selbst wissen.

Film-, Musik- und Literatur-Tipps

Statt die Frage nach der Henkersmahlzeit, beantwortet Dominic Bretscher die Frage nach seinen «Henkersfilmen, -bands und -büchern».

Filmtipps
1. El buen patrón von Fernando León de Aranoa (2021)
2. Hans im Glück von Peter Liechti (2003)
3. The Talented Mr. Ripley von Anthony Minghella (1999) bzw. Plein soleil von René Clement (1960)

Musiktipps
1. Jon Hopkins
2. Parcels
3. L’impératrice

Literaturtipps
1. Das grössere Wunder von Thomas Glavinic
2. Vernichten von Michel Houellebecq
3. Die Hochhausspringerin von Julia von Lucadou («Dieses Buch behandle ich mit jeder Klasse.»)